Goethe UniversitätWie beeinflusst die Mobilität von Pflegekräften Politik und Gesellschaft der Entsendeländer?

Susanne Sonntag

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In Deutschland sind 5 Millionen Menschen pflegebedürftig, für das Jahr 2050 werden mehr als 7 Millionen prognostiziert. Ohne Arbeitsmigration wäre das System längst zusammengebrochen. Doch wie ist die transnationale Pflege organisiert? Welche Folgen hat sie für die Herkunftsländer der Pflegenden? Und wie reagiert die Politik darauf? Mit diesen Fragen befasst sich ein internationales Forschungsprojekt, das am Fachbereich Sozialwissenschaften der Goethe-Universität koordiniert wird.

Die Menschen werden immer älter, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Der riesige Bedarf an Pflegekräften in Deutschland kann längst nur durch Arbeitszuwanderung befriedigt werden. Wegen des wirtschaftlichen Gefälles funktioniert das seit Jahren gut: Fachkräfte, vor allem Frauen, aus Osteuropa kommen nach Deutschland, wo sie mehr verdienen als in ihrer Heimat. Aber wie wirkt sich die Mobilität zum Beispiel der polnischen Pflegerinnen auf die Situation in Polen aus? Das erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Projekt „Researching the Transnational Organization of Senior Care, Labour and Mobility in Central an Eastern Europe“, das von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderlinie „Herausforderungen und Potenziale in Europa“ mit 1,5 Millionen Euro finanziert wird.


Das Forschungsprojekt mit Kurztitel CareOrg, an dem auch Teams in Rumänien, Ungarn, Tschechien, Polen, der Ukraine und den Niederlanden beteiligt sind, untersucht transnationale Altenpflegearbeit aus und innerhalb Mittel- und Osteuropas. Im Fokus steht das Ziel, entstehende transnationale Pflegemärkte zu verstehen und zu theoretisieren und Lösungen für eine nachhaltige und menschenwürdige Pflege und Pflegearbeit in Europa zu finden. Durch empirische und engagierte Forschung werden aktuelle und zukünftige Muster der Kommerzialisierung, Vermarktung, Transnationalisierung, Professionalisierung und Digitalisierung der Altenpflege kartiert und analysiert.


Inländische Pflegekräfte sind im Schnitt acht Jahre im Job, länger halten viele die hohen psychischen und physischen Belastungen bei mäßiger Anerkennung und mäßigem Gehalt nicht aus. Einst als illegale Notlösung zur Pflege von Angehörigen entstanden, sind die so genannten Live-ins in Deutschland längst etabliert, legalisiert und formalisiert: Agenturen vermitteln die Pflegekräfte, die nach Deutschland pendeln und mit Kolleginnen aus der Heimat rotieren. Ein Schock für dieses System war die Corona-Pandemie: Von einem Moment auf den anderen war Pendeln nicht mehr möglich, das System drohte zu kollabieren. Mit Nachhaltigkeit habe das wenig zu tun, sagt Ewa Palenga-Möllenbeck, die das Projekt leitet. Eine prekäre europäische Binnenmigration könne nicht die Lösung sein. Denn schließlich werden die Menschen auch in den Herkunftsländern immer älter und brauchen Pflege.


„In den Herkunftsländern der Pflegekräfte wird immer noch in den Familien gepflegt. Das übernehmen meist Frauen, die dann eben früher in Rente gehen und entsprechend wenig in die Rentenversicherung einzahlen“, erklärt Palenga-Möllenbeck. Dass die Politik in diesen Ländern sich der Problematik nicht stelle, geschehe auf dem Rücken der Frauen. Und es gebe eine Art Kaskade: Damit etwa polnische Frauen nach Deutschland gehen können, um dort als Live-In zu arbeiten, kommen ukrainische Frauen nach Polen und kümmern sich dort um die Pflege – meist ohne ordentliche Vertragsgrundlage. „Viele arbeiten nur, damit sie wohnen können, und werden richtiggehend ausgenutzt“, so Palenga-Möllenbeck.


Mit ihrer Forschung will sie die Situation transparent machen und auf den Handlungsbedarf hinweisen. In der Schweiz etwa gebe es für die Ankommenden als erstes eine Schulung hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten. Es sei dringend erforderlich, dass es in ganz Europa ordentliche Arbeitsverträge gebe; auch in Deutschland habe man Verbesserungsbedarf festgestellt. Viele Pflegekräfte seien auf der Grundlage von wenig vorteilhaften privatrechtlichen Verträgen angestellt.


CareOrg ist ein internationales und interdisziplinäres Forschungsteam, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Bereichen Arbeits-, Mobilitäts- und Alternsforschung. Dr. Palenga-Möllenbeck (Goethe-Universität) hat sowohl die Leitung als auch die Koordinierung des Projekts inne. Weitere beteiligte Institutionen sind die Karls-Universität in Prag (Tschechische Republik), das Zentrum für Sozialwissenschaften in Budapest (Ungarn), die Babeș-Bolyai University in Cluj-Napoca (Rumänien), das Institut für Systemische Alternativen in Kiew (Ukraine) und die Universität Amsterdam (Niederlande). Im Rahmen eines themenübergreifenden, international vergleichenden Forschungsdesigns wird CareOrg eine Kombination aus unterschiedlichen Forschungsmethoden anwenden, wie etwa vergleichende Policy-Analysen und fünf vertiefende, länderspezifische und themenorientierte Fallstudien über Care-Drain, Care-Situation infolge von Krieg und Flucht in und aus der Ukraine, Pflege vermittelt über Agenturen und digitale Plattformen, Qualifikationen und Anforderungen an internationale Pflegekräfte und vieles mehr.


Das Projekt ist Teil des Programms „Herausforderungen und Potenziale in Europa“ der VolkswagenStiftung, an dem die Goethe-Universität mit insgesamt fünf Projekten und damit bundesweit am meisten beteiligt ist. Ab Mittwoch, 4. September, findet im Schloss Herrenhausen in Hannover ein dreitägiges Symposium statt, an dem insgesamt 21 internationale Forschungsprojekte teilnehmen und ihre Ergebnisse zu vielen gesellschaftlich hoch relevanten Fragen wie intergenerationelle Beziehungen, Altern, Migration oder Populismus präsentieren. Die wissenschaftliche Koordination des Symposiums ist an der Goethe-Universität angesiedelt, sie wird von Dr. Ewa Palenga-Möllenbeck von Institut für Soziologie wahrgenommen.

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