cfa75eda ba6d 41af a405 59d13d5ff1b8Theologische Impulse (163)

Thorsten Latzel

Rheinland (Weltexpresso) - Wie viel Wahrheit verträgt unsere Gesellschaft? Ein Antwortversuch in drei Akten.
biblisch-philosophisch
existenziell-theologisch
politisch-kirchlich

1. Akt: Biblisch-philosophisch

Wir sind mitten in der Passionszeit, kurz vor Ostern. „Was ist Wahrheit?“ – so lautet die Pilatusfrage.
Pontius Pilatus, römischer Statthalter, Inhaber der politischen Macht, gibt keine bella figura in der Passionsgeschichte ab. Seine Aufgabe ist, Recht zu sprechen – doch er: bricht Recht. Liefert einen Unschuldigen ans Kreuz. Weil die religiöse Elite es so will und der Mob es so fordert. Weil die nicht ganz so feine Gesellschaft es nicht anders verträgt. Er versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen – und doch klebt Blut an ihm bis heute im Glaubensbekenntnis. Er laviert und philosophiert herum: „Was ist Wahrheit?“ Griech. a-letheia: wörtlich das Nicht-Verborgene. Dabei wäre die Antwort so einfach: Man tötet keine Unschuldigen. Dabei steht sie vor ihm – die menschgewordene Wahrheit. „Seht, welch ein Mensch.“ Das zumindest erkennt er noch.

Doch lassen wir uns einmal auf seine philosophische Frage ein. Achtung: Jetzt wird es etwas theoretisch. Doch nichts ist praktischer als eine gute Theorie. Auch für den politischen Umgang mit Wahrheit.

Da gibt es zunächst die Korrespondenz-Theorie der Wahrheit – wahr ist, wenn eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt, mit dem, was Sache ist. Auf gut Latein: adaequatio rei et intellectus. Das leuchtet ein. Das Problem mit dieser auf Aristoteles zurückgehenden Definition ist nur, dass die Wirklichkeit uns nicht einfach gegeben ist. Wir haben auch das, „was Sache ist“, die Wirklichkeit, nie unvermittelt, direkt, ohne Zeichen. Insofern muss man die Korrespondenz-Theorie zeichentheoretisch weiterentwickeln: Es geht um die Übereinstimmung des Inhalts eines Begriffs, seiner Intension, mit dem äußeren Objektbezug des Begriffs, seiner Extension. Gibt man diese Übereinstimmung auf, landet man sprichwörtlich in Teufels Küche – oder neudeutsch im post-faktischen Zeitalter. Warm greetings aus dem Oval Office. Dass Trump sein soziales Netzwerk allen Ernstes „truth social“ nennt, hat wahrhaft Orwellschen Charakter.

Damit sind wir bei der Redundanz-Theorie von Wahrheit: „Wahr“ wird darin zum inhaltlosen, redundanten Attribut. Zum bloßen Sprechakt. Dass ein Satz wahr ist, heißt dann nichts anders, als dass jemand ihn als wahr behauptet. Wahrheit erschöpft sich so im Sprechakt der Wahrheitsbehauptung – und wird letztlich zur autokratischen Macht- bzw. Identitäts-Frage. Pointiert: Wahr ist, was Trump sagt.

Eine offene, demokratische Gesellschaft kennzeichnet sich dagegen durch den Prozess kollektiver Wahrheitssuche.

Und hier kommt die Konsenstheorie von Wahrheit ins Spiel. Sie reicht nicht zur Definition von Wahrheit, weil eben auch Synoden, Parlamente, wissenschaftliche Communities, ganze Gesellschaften irren können.

Doch der zwanglose Zwang des besseren Arguments ist ein Weg der gemeinsamen Annäherung – auch wenn der herrschaftsfreie Diskurs dabei stets regulative Idee und keine Realität ist. Dass etwa der Klimawandel menschengemacht ist, bleibt eine These. Doch die Übereinstimmung von 99 Prozent der empirischen Klima-Forscher/innen weltweit seit Jahren könnte zu denken geben. Ein Problem unserer Tage ist nur, dass eine solche Konsensfindung Zeit und Orte braucht. Und die geht uns im Tempodrom des digitalen Zeitalters vielfach verloren. Es gibt mehr „Talk-Show“ als Diskurs. Mehr algorithmisch gesteuerte Erregungskultur in Blasen als Orte wirklicher wechselseitiger Verständigung.

Blieben noch die Kohärenz- und Konsequenz-Theorie von Wahrheit. Nach ihnen ist eine Aussage wahr, wenn sie mit der Wahrheit anderer Aussagen zusammenpasst bzw. sich wahre Aussagen aus ihr ableiten lassen. Auch dies ist keine hinreichende Definition von Wahrheit, vielmehr ein notwendiges Kriterium. Und es ist relevant für den Zusammenhalt von Gesellschaft. Das zeigt sich etwa im Blick auf Kohärenz bzw. Konsequenz politischer Aussagen. Politiker/innen wie andere haben das Recht, ja, geradezu die Pflicht, ihre Meinung zu ändern – wenn sie eines Besseren belehrt werden oder die politische Lage bzw. notwendige Kompromisse dies erfordern. Doch sie müssen dies transparent machen und kommunikativ gut begründen.
„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“ reicht da nicht. Man darf Menschen nicht für dumm verkaufen. Schon gar nicht in einer Demokratie.


2. Akt: Existenziell-theologisch

In diesen Tagen erinnern wir an den Todestag von Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945, kurz vor Kriegsende im KZ Flossenbürg hingerichtet wurde. In einem überlieferten Aufsatzfragment aus der Zeit seiner Tegler Haft stellt er die die Frage: „Was heißt, „die Wahrheit sagen‘“?1

Bonhoeffer entwickelt in diesem Aufsatz ein dynamisches Verständnis von Wahrheit.
Wahrheit ist demnach nicht immer und universell das Gleiche, sondern vom jeweiligen Kontext abhängig.

„Die Gott geschuldete Wahrheitsgemäßheit unserer Worte muß in der Welt konkrete Gestalt annehmen. Unser Wort soll nicht prinzipiell, sondern konkret wahrheitsgemäß sein.“2

Wahrheit sagen bedeutet also je nach Ort und Beziehung der Menschen zueinander etwas Verschiedenes.
Die Wahrheit unserer Rede ist bedingt durch Situation und Relation. Diesen Gedanken verdeutlicht Bonhoeffer an einem Beispiel. Ein Kind wird vor der Klasse durch den Lehrer gefragt, ob sein Vater oft betrunken nach Hause kommt. Das Kind antwortet – entgegen der Faktenlage – „Nein!“. Nun wäre die einfache Reaktion: das Kind lügt. Doch Bonhoeffer sagt, dass die Rede des Kindes, die „Lüge“, mehr Wahrheit enthält, weil der Lehrer kein Recht an der Wahrheit des Kindes hat. Denn „zum Sprechen gehört die Berechtigung (…) durch den anderen Menschen.“3 Wahrheit sagen ist demnach ein zwischenmenschliches Ereignis, das jeweils das Verhältnis zum Mitmenschen in den Blick nehmen muss. Mit dieser Idee Bonhoeffers ist nicht gesagt, dass Wahrheit wie bei „alternative facts“ jenseits des Faktischen liegt. Vielmehr betont er: Wahrheit ist kontextuell gebunden und nicht jeder Mensch ist gleichermaßen berechtigt, von einem anderen Menschen wahrheitsgemäße Rede zu verlangen. Zur Würde eines jeden Menschen gehört theologisch die Unverfügbarkeit der Wahrheit einer Person, die letztlich nicht einmal ihr selbst, sondern nur Gott zugänglich ist.

In die heutigen Zeit gesprochen heißt das beispielsweise:

– Es gibt Wahrheit, die gehört allein einer betroffenen Personen, aber nicht den Medien. Etwa bei einem Unglück oder bei Fällen von Gewalt. Es gilt, einem Katastrophen-Voyeurismus zu wehren.

– Es gibt persönliche Wahrheit, die in ein Zwei-Augen-Seelsorgegespräch gehört, aber nicht in den Landtag. Das gilt für alle Menschen, auch in öffentlichen Ämtern. Deswegen ist das Seelsorge-Geheimnis so wichtig.

– Oder ein anderes Beispiel:

Dass ein Täter einen Migrationshintergrund hat, kann eine korrekte Aussage sein. Im Kontext öffentlicher Berichterstattung muss es aber nicht automatisch wahr sein, davon zu berichten. Sofern es für den Tatbestand keine Rolle spielt, verzerrt es möglicherweise sogar die öffentliche Debatte. Und es ist aufschlussreich, dass über die migrantische Herkunft von Opfern oft nicht die Rede ist.

Nun gibt es aktuell politische Strömungen, die einen primär instrumentellen Zugang zur Wahrheit haben.
Sie beanspruchen, oft genau zu wissen, welche Wahrheit das Volk, nicht die Gesellschaft, verträgt. Dabei gehört es zum Wesen eines völkischen Populismus ein gespanntes Verhältnis zur Wahrheit zu haben, weil er von seinem Ansatz her antipluralistisch und antiuniversalistisch ist: „Wir und nur wir sind das Volk.“ Wahr ist das, was der eigenen Sache, der eigenen Gruppe, der politischen Machterweiterung dient. Dazu noch einmal Dietrich Bonhoeffer:

„Es gibt eine Satanswahrheit. Ihr Wesen ist, daß sie unter dem Schein der Wahrheit alles leugnet, was wirklich ist. Sie lebt von dem Haß gegen das Wirkliche, gegen die Welt, die von Gott geschaffen und geliebt ist.

Sie gibt sich den Anschein, als vollzöge sie das Gericht Gottes über den Sündenfall des Wirklichen. Aber Gottes Wahrheit richtet das Geschaffene aus Liebe, die Satanswahrheit richtet es aus Neid und Haß. Gottes Wahrheit ist fleischgeworden in der Welt, ist lebendig im Wirklichen, die Satanswahrheit ist der Tod alles Wirklichen.“4


3. Akt: Politisch-kirchlich

Die Fähigkeit, im gesellschaftlichen Raum die Wahrheit zu sagen, hat entscheidend mit Vertrauen zu tun. Denn es kann gerade auch das wahr sein, was von vielen Menschen als Zumutung verstanden wird. Wahrheit hat keinen Wohlfühlcharakter. Oder mit Worten des US-amerikanischen Autor David Foster Wallace:

„Die Wahrheit macht dich frei, aber vorher macht sie dich fertig.“
Doch je weniger Vertrauen in Institutionen, in Leitungspersonen oder zu politischen Akteuren existiert, desto weniger sind Menschen bereit, diesen Zumutungscharakter von Wahrheit zu akzeptieren. Die De-Institutionalisierung ist ein Problem für den Prozess kollektiver Wahrheitssuche. Je schwächer die Parteien in einer Demokratie oder die Kirchen in der Gesellschaft sind, desto individualistischer und instrumenteller wird der Umgang nicht nur mit dem Gemeinwohl, sondern auch mit Wahrheit. Auf das Problem sozialer Medien mit gezielten Desinformationskampagnen, Deep fake und eskalationsorientierten Algorithmen habe ich schon hingewiesen.

Doch mir liegt sehr daran, dass wir nicht immer nur über Probleme reden, sondern davon, was wir tun können – und vor allem von dem, was uns Hoffnung gibt. Ein Schlüsselsatz christlicher Hoffnung, der für uns als evangelische Kirche und mir persönlich wichtig ist, steht in Joh 8,32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Die Wahrheit, um die es im Glauben geht, trägt als Wesenskern die in Liebe gründende Freiheit in sich. Es ist keine Wahrheit, die neben oder in Konkurrenz zur Wahrheit in anderen Bereichen steht. Es geht vielmehr um eine Wahrheit höheren Grades: um eine Wahrheit, die dazu frei macht, die Wahrheitseinsichten anderer anzuerkennen und die eigenen Wahrheiterkenntnisse zu leben.

Aufgabe von uns als Kirche ist es daher nicht, uns in weltanschaulichen Kulturkämpfen oder parteipolitischen Kontroversen zu verstricken – als sei die Wahrheit des Glaubens abhängig von der Durchsetzung eines politischen oder kulturellen Programms.

– Unsere Aufgabe als Kirche ist es, eine „Diskursivität der Feindesliebe“ zu leben. Egal, wer du bist, woher du stammst, wen du liebst oder wählst, lass uns gemeinsam nach Wahrheit suchen.
– Unsere Aufgabe ist es, Halt, Heimat, Hoffnung zu geben – und so ein Ort zu sein, an dem Menschen lernen können zu vertrauen. Gott glaubt an dich, darum kannst du anderen glauben.
– Unsere Aufgabe ist es, aus einer Wahrheit zu leben, die wir nie besitzen, aber die uns ganz bestimmt. Wir sind nicht besser als unsere Nachbarn. Das kann herzlich entspannen im Umgang miteinander.

– Unsere Aufgabe ist es, selbst wahrhaftig zu werden – der Mensch zu sein, den wir uns von dem anderen erwarten. Gerade in Leitungsverantwortung.
Mit Wahrhaftig-Werden kann ich mehr anfangen, als mit der Phrase „sich ehrlich zu machen“. Weil es um ein Werden, nicht um ein Machen geht. Weil Wahrhaftigkeit weiterreicht als Ehrlichkeit. Und weil es dabei nicht um eine moralische Forderung geht, sondern darum, dass die Wahrheit uns frei macht. Das ist unsere Hoffnung von Ostern her: dass die Liebe wahr ist und frei macht. Wie viel Wahrheit verträgt also die Gesellschaft? Sie braucht auf jeden Fall mehr, als sie glaubt. Eine Wahrheit, die frei macht, um mit unseren begrenzten Erkenntnissen umzugehen – von mir selbst und allen anderen. Und dazu, gemeinsam mit anderen nach Wahrheit zu suchen.


Anmerkungen:
1 Vgl.: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 16: Konspiration und Haft 1940-1945, hrsg. v. Jørgen Glenthøj, Ulrich Kabitz und Wolf Krötke, München: Chr. Kaiser Verlag 1996, 619-629.
2 S.o. 621.
3 S.o. 628.
4 S.o., 623f.

Foto:
Treppen
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Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Präses der rheinischen Kirche
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: www.bod.de