100 Jahre später: Walter Benjamins Philosophie des Studiums erregt Studierende neu


Heinz Markert


Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Rekurs, der ungewöhnlich erscheint, denn das heutige Studieren gilt eher als Zwischenphase zwischen Schule und Beruf, es ist kaum mehr aufgeladen mit Begeisterung. Benjamin arbeitete gar noch mit Geschichtsphilosophie, nicht nur hintergründig, sondern offen.

Benjamin spricht von der Ablösung der Jugend von Geschichte und Abkunft. Jugend und Studium sei nicht nur Übergangszeit.


Zum Thema Bildungspolitik


Die mit bildungsphilosophischen Arbeiten befasste Masterstudentin Norina Müller referierte in der Universität 360 º (Frankfurt am Main) zum Thema: ‚Die Universität als „Stätte der beständigen geistigen Revolution“?‘ - Zur Bedeutung studentischer Kritik‘. Walter Benjamin könnte mit seinen Überlegungen und Ausführungen wieder zum Gewährsmann, wenn nicht zum Dreh- und Angelpunkt eines Entwurfs der Studentenschaft als einer potentiell ‚großen Transformatorin‘ werden. Auch das Ideal einer neu gedachten Universität in autoritärer, von höllischem Bellizismus geprägter Zeit trieb ihn zu einer Revision der Alma Mater (Walter Benjamin 1915: 734; Aufgaben der Studierenden).


Die Beschäftigung mit Walter Benjamin ist eine der besonderen Art, weil er subtextlich in der Perspektive der Metaphysik, in der besonderen metaphysischen Schleife des Walter Benjamin, sich unkonventionell vorwagt. Zwar hat er – wenn auch gewendet - die idealistische Tradition noch im Gepäck, verknüpft sie jedoch mit einem freitheologisch umgedeuteten Marxismus. Es geht ganz um Realität und Diesseits. Marxismus ist Hebel der Veränderung, Zugangstor für „eine schwache messianische Kraft“, mit der sich eine mögliche Erlösung verbindet. In seinen thesenhaften geschichtsphilosophischen Gedanken entwickelt er auch ein Ideal der Universität.


Benjamin macht eine Vorgabe zu einer neuen Idee des Studentenlebens. Er wendet sich gegen die Erstarrung des Studiums in einem Haufen von Wissen. Die Einheit der Wissenschaft wäre die Einheit von Idee und Wissen, oft verhindert durch die Fixierung auf das kommende Sein im Berufe. Die Wissenschaft muss sich kritisch auf sich selbst rückbeziehen. Die Verbindung mit Staat erscheint ihm als barbarisch - was käme da gegenwärtig noch alles hinzu im Zeitalter der universellen Verwertbarkeit? Freiheit der Wissenschaft - was bräuchte es, dass sie Realität würde?  


Viertes Quartal 2009 - Zeit erneuter studentischer Unruhe/Wien, Zürich, F-Oder, LMU


Zur Erinnerung: die Unruhe entzündete sich nicht unwesentlich an den damals noch in kraft befindlichen Studiengebühren, aber Unruhe kommt – auch das gehört zur Metaphysik – regelmäßig an die Universität; dort fängt es an dort zu gären und zu rumoren, das gehört zum Wesen einer Gesellschaft der Studierenden, denn sie sind das Salz in der Suppe.


In jenem 4. Quartal entstanden länderübergreifend Sitzungspapiere, am 30.12.2009 dann das Positionspapier unter dem Titel ‚Unbedingte Universitäten 2010‘. Es wurden Forderungen gestellt, die das gesamte Bildungssystem und alle gesellschaftlichen Belange betreffen. Im Zentrum steht die Wendung gegen eine wachsende Ökonomisierung der Bildung. Der verengte marktwirtschaftliche Imperativ wird in Frage gestellt.


Der Begriff ‚Unbedingte Universitäten‘ gemahnt unmittelbar an Jacques Derridas Entwurf der ‚Unbedingten Universität‘, einer bedingungslos unbedingten Geistesschmiede des nicht-identitären Geistes.*) Jacques Derrida hielt auf Einladung von Jürgen Habermas den vielbeachteten Vortrag ‚Die Zukunft der Universität‘, der eine scharfe Kritik des Normalbetriebs der Universität darstellt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung rückte ihn in eine Reihe mit epochalen Reden Kants, Schellings, Nietzsches und Heideggers.


Hauptforderung der Studierenden aus 2009: inhaltliche Unabhängigkeit der Universität, privatwirtschaftliche Einflussnahme ist abzulehnen. Gefordert ist aus studentischer Sicht und allgemeinem Interesse die Freiheit der Studienorganisationen und der Studierendengemeinschaft. Eine Bildungsgemeinschaft der Studierenden, ein emphatisches Verbundenheitsverständnis war für Benjamin in Zeiten geballten rückwärtsgewandten Wilhelminismus‘ ein wesentliches Element einer neuen Universität.


Nach einem erweiterten Forderungskatalog der LMU vom 02.11.2009 (die Papiere korrespondieren miteinander) sei das Studium nicht entlang schablonierter Studienpläne abzuarbeiten, sondern soll durch Freiräume für ein selbstorganisiertes, selbstbestimmtes Lernen gekennzeichnet sein.  
Gemäß einer überarbeiteten Fassung ‚zur Demokratie‘ wird auf die Ermöglichung und Begünstigung von reifen und selbstbestimmten Menschen im Studium gesetzt, die die Chance haben, sich zu umsichtigen und reflektiert denkenden Menschen zu entwickeln. Im Vorschlag für ein überarbeitetes Papier (man merkt, es wurde über eine längere Zeit nachgedacht, gefordert und miteinander im Austausch gelebt) wird eine unzureichende Demokratisierung bemängelt, eine zu geringe Unabhängigkeit des Studiums und die allseits unterbewertete Chancengerechtigkeit im Bildungssystem. Und selbstverständlich wird die Abschaffung der Studiengebühren gefordert.


Die Chancengerechtigkeit ist nicht nur ‚national‘ zu verstehen, sondern weltweit im Sinne globaler Chancengerechtigkeit. Bildung sei ausdrücklich „Bildung als Bildung des* Anderen“. Damit wird Bildung zur mundanen Veranstaltung, zum bildungspolitischen urbi et orbi (das ist auch nur konsequent und entspricht dem Wesen der Bildung); sie habe frei zu sein von jedweder Diskriminierung, unter Einbeziehung der Geflüchteten. Gefordert wird weiterhin: Herstellung von Wissen, das auch die Strukturen der Produktion von Ungleichheit benennt (Erweiterter Forderungskatalog der Uni Wien, 02.11.2009). Die Wiener fordern freie Bildung für alle, Stopp der Ausbeutung und eine freie, solidarische Gesellschaft.


Unter ‚Abschließende Forderungen‘ (Pos. Papier AG Bildungsstreik) bestimmte die Versammlung der aktiven Studierenden: Ablösung der halbherzigen Bildungspolitik gemäß herrschender Zustände, die Ungleichheit zementiert; sie stellte die Forderung nach Gerechtigkeit und freier Bildung, nicht nur freier Wissenschaft (das war schon Forderung in der Rebellion der Sechziger und Siebziger). Die Universität solle ein Ort der Demokratie sein, womit Walter Benjamin, der Impulsgeber, der heutige Resolutionen studentischer Vollversammlungen inspiriert und ihnen Rückhalt gibt, wieder an Aktualität gewinnt.

1. nicht die studentische Privilegierung verteidigen,
2. keine fremden Zwecke sollten sein, ‚alle Menschen dieser verdammten Welt mögen ein befreites Leben in Wissenschaft und Kunst gestalten‘ können
3. es ist Zeit für ein selbstorganisiertes, selbstbestimmtes Lernen


Die Referentin akzentuierte den politischen Charakter der damaligen Proteste: Bildung für alle, gleichberechtigtes Füreinander, Vollversammlungen einberufen, das top-down der Universität durchkreuzen, sich nicht auf Konkurrenz und Wettbewerb vereidigen lassen. Es wird klar, da kam eine Neuauflage uralter Forderungen auf den Plan.


Benjamin wollte Aufhebung der Politik, wollte, dass öffentliche Dinge öffentlich verhandelt werden und auch Studierende zu Subjekten einer beständigen Revolution werden. Die Abschlusslosung des Vortragsabends war: Streithandel - Lasst und streiten! Eine Anregung könnte auch sein: wie kann verhindert werden, dass Studierende durch die Apparate hindurch von geistig Strebenden zu eingefleischten Philistern werden, bei deren Anblick man erschrickt (so formulierten Schopenhauer und Benjamin nahezu übereinstimmend).

 

Foto: Kopf mit Geistesarbeiter © Heinz Markert · Walter Benjamin © wbenjamin.de
Info:
‚Die Universität als „Städte der beständigen geistigen Revolution“? - Zur Bedeutung studentischer Kritik‘; Referentin: Norina Müller, Masterstudentin der Erziehungswissenschaften an der Universität Wuppertal, 26.01.2017, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Campus Hörsaal 5
*) Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, edition suhrkamp, 2001  ISBN-13:   
9783518122389