Adoleszenz in einer Welt der Risiken – Forschung und Praxis im Dialog, Teil 2/2


Heinz Markert


Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Fortsetzung zu Werner Bohleber: Nach dem ‚Arnold-Modell‘ ist die Funktion des Sense of Agency die Schaffung von Bedeutungen. Schon der Säugling ist zu Kontingenzen fähig und in der Lage, sie zu entdecken, und zwar sehr früh schon.


Substanzialistische Entwürfe der Identität seien ‚zu entschlacken‘. Agentur ist reflexiv, die Selbstrepräsentation dient der sozialen Rolle; die Identität ist und bleibt so etwas wie ein Konstrukt. Allein zu sein ist eine Herausforderung.


Das eigene abgegrenzte Feld, die fatale Abhängigkeit, die Möglichkeit der Verluste oder tatsächliche Verluste können zu großen Verunsicherungen und Brüchen führen, zum Steckenbleiben. ‘Lebt noch bei den Eltern‘, ‘Mutter überfürsorglich‘, ‚lebt noch im geschützten Camp‘, ‚hat Definition an Mutter abgegeben‘, ‚mit 40 noch zu Hause‘ und ‚Bauchschmerzen‘ sind Indikatoren für eine verhängnisvolle Situation.


Kann beliebig erweitert werden: ‚hat keine eigene Vorstellung, selbständig zu werden‘, ‚wird nicht so gut wie der Vater‘, ‚jedes Wochenende nach Hause zu den Eltern‘, ‚sie wirkt noch sehr adoleszent‘, ‚als sitze sie in einer Höhle‘, ‚noch im Ablösungsprozess‘. So wird die Realisierung eines Lebensentwurfs in die Spätadoleszenz verschoben und darüber hinaus. Am Primärobjekt kann weiter festgehalten werden, es kommt dann zur negativen Valenz des Elternbildes. Die Abnabelung von einem Elternteil-Über-Ich bleibt ganz oder teilweise aus.


Gescheiterte Ablösungen sind verzeichnet in ‘Young adults in psychoanalytic psychotherapy’ - Project YAPP, von Andrzej Werbart (und 3 Kollegen); einer Langzeituntersuchung mit 134 Patient*innen (18-25 Jahre), einem Durchschnittsalter von 22 Jahren und drei Untersuchungszeitpunkten. Die Auswertung ergab Zuwächse an Selbstbezüglichkeit und Selbstdefinition. Ein Drittel ist der Diagnose Disorder zugeordnet. Spätadoleszenzen mit gehemmtem, gebrochenem oder gar zusammengebrochenem Entwicklungsprozess sind eine Folge des zu sehr Festhaltens und eines eingefahrenen Blicks nach rückwärts.



Psychoanalytische Therapie eines Adoleszenten: Eine Fallstudie (Dieter Bürgin)

Vorausgesetzt ist dipolare Spaltung, mit Abspaltung und Abschaltung des Ich, natürlicher Personalanteile. Das Ich wird sich selbst zum Dauerobjekt, der Therapeut begleitet und wird selbst zum Teil der Geschichte. Spätadoleszenz ist uneins mit sich, kann nicht zur Welt kommen. Ein Profilmangel ist zu finden, das Neutrum bestimmt die Lage.

Patient ist überdurchschnittlich intelligent. Die Sitzungen gehen über eine sehr lange Zeit, 240 Stunden waren es total, bei einer Stunde pro Woche. Fortschritte bleiben gering. Die beruflichen Ziele sind hochgesteckt - aber die Schulleistung ist mäßig. Patient scheint wie ins Leere zu bauen, hat Mühe sich auf das Gegenüber zu konzentrieren. Tagträume sind das, worüber zu reden sich verbietet, weil sie dann nicht mehr eigene wären. Selbst das Tagträumen ist von Antriebslosigkeit gezeichnet.

Ohnmacht/Allmacht wechseln ab, eine Macht der Negativierung wiegt vor, sexuelle Impulse werden abgewehrt, Einsamkeit drängt sich nach vorne, Patient schaut zu und ist zugleich Publikum. Affekte werden sogleich abgestellt. Beziehungen scheitern an Konfliktsituationen, auf Tagträume wird nicht verzichtet. Inneres schwankt zwischen Mann/Frau. Versuch und Scheitern ist vorprogrammiert. ‚Was nutzt es, diese Dinge in der Welt in Worte zu bringen und zu unterscheiden‘. ‚Verzicht auf Ziele in der Außenwelt‘. ‚Wollte als Kind Neutrum sein‘.

Therapeut findet sich als Sprechorgan von Patient, in Endlosschleife, an der der Therapeut nichts machen kann. Aber die Therapie soll auf jeden Fall weitergeführt werden. Wut aushalten, nicht transformieren! So vergeht ein Zeitraum von sieben Jahren. Abbrechen? - Nein, weitermachen!

Ist es verpasste Konstruktion oder gewollte Dekonstruktion, was wiegt vor oder ist es eine Wechselbeziehung von beidem? Patient sieht sich langsam verstört durch Grausamkeit gegen sich selbst, die ungeöffneten Affekte, das Roboter- und Eingeschlossensein. Dieser Verlauf hat wieder die Entsprechung in der Literatur, sie war ein mächtiges Gebiet für Freud in ‚Bildende Kunst und Literatur‘, im vorliegenden Fall mit Dostojewskis ‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘; das Herabgesenkte erfährt Bewunderung mit dem unterirdischen Wesen des Abgespaltenen und Verdrängten. ‚What agonies I endured‘, fast wäre es ein Genuss, nach dem Ausschrei: ‚What agony!‘.


Radikalisierung in der Adoleszenz (Patrick Meurs)


vergl. Heft ‚Psyche‘: ‚Radikalisierung und Dschihad aus psychoanalytischer Perspektive‘


Womit wir bei dem Thema wären, das Aufsehen macht und die Problematik des Adoleszenzentwurfs ganz nach vorne rückt, was die Täter auch erreichen wollen. Der zentrale Mechanismus scheint zu sein, dass Anwerber auf offene Ohren treffen indem sie „Muslime als Trauma-Opfer“ dieser Welt erschaffen und darreichen. So werden die wie auch immer Gescheiterten, Verlorengegangenen spitz gemacht auf das scheinbar rettende Heldentum im Dschihad. Der Islam wird manipuliert und missbraucht, wie säkulare Muslime sagen.


„Der Autor greift auf Vamik Volkans Konzept des ‚chosen trauma‘ zurück“ (aus einer Zusammenfassung von ,Psyche‘, Heft 09-10, Sept. 2016). Die Adoleszenz birgt also verschiedene Möglichkeiten in sich, unter anderem auch: in eine gewalttätige Steigerung der Adoleszenz überzuwechseln. Musterbeispiel ist Käthe Kollwitz` Sohn Peter, der 17jährig sich wild entschlossen für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg meldete, in dem er bereits nach wenigen Tagen fiel.


http://www.klett-cotta.de/autor/Patrick_Meurs/78027


Zu Fallstudie Dieter Bürgin:


https://www.researchgate.net/publication/7169599_Young_adults_in_psychoanalytic_psychotherapy_Patient_characteristics_and_therapy_outcome

 

 

Foto:  ‚Dschihadisten rücken vor‘© taz.de


Info:
Internationale Tagung: ‚Adoleszenz in einer Welt der Risiken‘, ‚Forschung und Praxis im Dialog‘, Johann Wolfgang Goethe-Universität 03.- 05.03.2017, Frankfurt am Main, 03.-05. März.2017 · u.a. richtete auch das Sigmund-Freud-Institut die Tagung mit aus.