Serie: ANATOMIE EINES LÜGENKOMPLOTTS, Teil 2/8
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Was hatte den Innenminister bewogen, die Jugendkarawane zu verbieten? Plagte ihn die Sorge, nicht genug Polizeikräfte zur Verfügung zu haben, um einen friedlichen Verlauf zu gewährleisten? Sollte verhindert werden, dass die verbotene FDJ sich – wieder einmal – in Szene setzte? War die Autorität des Staates in Gefahr? Oder spielten am Ende hochpolitische Erwägungen eine Rolle? Am 26. Mai sollte der Generalvertrag unterzeichnet werden. Wollte Karl Arnold seinem Parteifreund Adenauer die peinliche Begleitmusik ersparen? Wie auch immer – zuständig für das Verbot war der Rat der Stadt Essen. Im »Einvernehmen mit dem Herrn Innenminister« teilte er den Veranstaltern mit, die vorhandenen polizeilichen Kräfte reichten nicht aus, um einen reibungslosen Verlauf der angemeldeten Veranstaltung zu gewährleisten; deshalb werde sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäß § 14 des Polizeiverordnungsgesetzes verboten.
Wie kam es dazu, dass der Rundfunk früher als die Veranstalter von dem Verbot wusste, und wie verschaffte sich der Regierungschef eines Bundeslandes Zugriff auf die Mikrofone? Rechtsgrundlage des Nordwestdeutschen Rundfunks war seinerzeit die Verordnung Nr. 118 der britischen Militärregierung von 1949. Sie enthielt keine ausdrückliche Regelung über ein Verlautbarungsrecht für amtliche Mitteilungen. Folglich hatte der Ministerpräsident keine rechtliche Handhabe, das Verbot einer Kundgebung über den Rundfunk bekannt zu machen. Ein Gespräch mit dem Intendanten des NWDR genügte, um alle Hindernisse zu beseitigen.
Dem politischen Zugriff auf die Massenmedien seien in einer Demokratie Grenzen gesetzt, meinte zu Beginn der siebziger Jahre der Publizistikwissenschaftler Harry Pross in seinem Buch „Mitteilung und Herrschaft“. Eine euphemistische Einschätzung. Die Unabhängigkeit
des Rundfunks vom Staat war immer ein Trugbild. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bekannte später: »Die Rundfunkwarnung ist im Einvernehmen mit dem Ordnungsamt Essen von mir persönlich veranlasst worden.« Was die beteiligten Journalisten betrifft, so waren sie offensichtlich weit davon entfernt, den Vorgang kritisch zu hinterfragen. Niemanden interessierte es, ob das Verbot gerechtfertigt war oder nicht. Erst sehr viel später, als Teilnehmer des Treffens strafrechtlich belangt werden sollten, wurde die Frage relevant.
Die Verteidiger hielten das Verbot für einen »willkürlichen Verwaltungsakt«, der wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit unzulässig und daher nichtig gewesen sei. Der Bundesgerichtshof entschied abschließend, dass das Verbot rechtens gewesen sei, da die Demonstration »friedensfeindlichen Zwecken« gedient habe.
Das Geschehen nahm seinen Lauf. Noch ehe ein Teilnehmer der Jugendkarawane seinen Fuß auf Essener Boden gesetzt hatte, machten sich Polizeihundertschaften aus Köln, Düsseldorf und Wuppertal auf den Weg, Anreisende abzufangen und die Stadt zu besetzen. Spitzel hatte die Polizei davon unterrichtet, dass die FDJ trotz des Verbots um 13.30 Uhr vor dem Ausstellungsgelände der Gruga demonstrieren wolle. Wie die Dortmunder Staatsanwaltschaft später bekannt gab, waren etwa 30.000 Personen nach Essen gekommen, von denen sich etwa 2.000 vor dem Haupteingang der Gartenbauausstellung versammelt hätten. Die Polizei hatte rund 2.000 Beamte im Einsatz.
Was sich am 11. Mai 1952 abspielte, beschrieb tags darauf die Essener »Neue Ruhr-Zeitung« mit folgenden Worten: »Zu schweren Zusammenstößen zwischen Hunderten von demonstrierenden Angehörigen der verbotenen FDJ und der Polizei kam es gestern Nachmittag in Essen vor den Toren der Gartenbauausstellung ›Gruga‹. Der 21-jährige Demonstrant Philipp Müller aus München-Neuaubing wurde durch einen Brustschuss getötet, während drei weitere Jugendliche aus Kassel, Münster und Pinneberg zum Teil schwere Schussverletzungen erhielten. Acht Polizeibeamte wurden mehr oder minder schwer verletzt. Wie die Polizei erklärte, wurde die Aufforderung an die Ordnungsstörer, auseinander zu gehen, mit Pfeifen, Johlen, Steinwürfen und Schüssen beantwortet. Die Polizei habe diese Angriffe daraufhin abgewehrt. Der Besucherstrom zur ›Gruga‹ wurde durch die Unruhen in keiner Weise beeinträchtigt.
Insgesamt wurden über 100.000 Besucher gezählt.«
Unter der Überschrift »Getarnte FDJ schießt auf Polizei in Essen« war am 12. Mai in der Tageszeitung »Die Welt« zu lesen: »Zum ersten Male seit Kriegsende wurde am Sonntag bei einer Demonstration von Kommunisten auf die Polizei scharf geschossen. Angehörige der Tarnorganisation ›Junge Generation‹, die gegen den Generalvertrag protestieren wollten, eröffneten vor den Toren der Essener Gartenbauausstellung aus Pistolen des Musters ›08‹ das Feuer, das von der Polizei erwidert wurde. Bei diesem Schusswechsel wurde der 21-jährige Philipp Müller aus München getötet. Drei weitere Demonstranten aus Münster, Pinneberg und Kassel liegen mit Lendensteck- und Knieschüssen im Krankenhaus. Ein Polizeibeamter wurde schwer, acht wurden leicht verletzt. 248 Personen sind vorübergehend festgenommen worden, 20 andere, als Rädelsführer erkannt, bleiben in Haft.«
In einem Kommentar des Blattes hieß es: »Die neue Phase der kommunistischen Deutschland-Politik – der ›Kampf gegen den Generalvertrag unter Einsatz aller Kampfmittel‹ erlebte am Sonntag in Essen einen blutigen Auftakt ... Die Tatsache, dass die Kommunisten dazu übergehen, Jugendliche mit Schusswaffen auszurüsten, ohne Rücksicht auf Menschenleben, beweist erneut die Skrupellosigkeit eines Systems, das zur gleichen Zeit wagt, von Frieden und Einheit zu sprechen. Was die Polizei betrifft, so scheinen die Ereignisse in Essen bestätigt zu haben, dass eine gründlichere Vorbereitung auf derartige Demonstrationen notwendig ist. Nervosität, die dazu führt, dass auch Unbeteiligte mit dem Gummiknüppel Bekanntschaft machen, dient nur den Absichten der Demonstranten. Die Bürgerkriegstaktik der Kommunisten zwingt zu Gegenmaßnahmen. Um so mehr müssen die Hüter der öffentlichen Ordnung einen kühlen Kopf behalten.«
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