Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Die in München erscheinende »Neue Zeitung«, die sich im Untertitel »Die amerikanische Zeitung in Deutschland« nannte, schrieb am 13. Mai, mit der Taktik illegaler Demonstrationen und des Straßenkampfes vertraute FDJ-Angehörige hätten sich zusammengerottet, um unter allen Umständen schwere Zusammenstöße herbeizuführen und die Bevölkerung aufzuwiegeln. Ministerpräsident Arnold habe seine Bewunderung darüber geäußert, mit welcher »inneren Selbstbeherrschung« die Polizeibeamten ans Werk gegangen seien. Am 14. Mai 1952 zitierte die Zeitung einen Sprecher der – wie es hieß – dem US-Außenministerium nahe stehenden »Stimme Amerikas«, der in einer Sondersendung für die Sowjetzone zu den Zwischenfällen in Essen erklärt habe, die Kommunisten in Ost- und Westdeutschland hätten sich nach einem derartigen Vorfall geradezu gesehnt. »Sie wollten einen Märtyrer und nun haben sie einen.« Unter Berufung auf maßgebende Kreise der britischen Hochkommission hieß es in derselben Ausgabe, die kommunistische Aktion in Essen sei Teil eines Erpressungsprogramms, mit dem Moskau seinen Vorschlägen für eine Lösung des deutschen Problems Nachdruck verleihen wolle. Die Vorkommnisse hätten »einen Begriff davon gegeben, in welcher Art und Weise die Kommunisten ihren
Wahlkampf bei gesamtdeutschen Wahlen führen werden und wie notwendig es sei, ausreichende Sicherungen gegen diesen Straßenterror zu schaffen.«
Anders als nach der Mutmaßung über den ersehnten Märtyrer erwartet werden konnte, nahm die Nachricht vom Tode Philipp Müllers bei der kommunistischen »Neuen Volks-Zeitung« , für die ich am 11. Mai in Essen als Reporter im Redaktions-VW unterwegs war, am nächsten Tag nicht den ersten Platz ein. Sie stellte den Protest gegen den Generalvertrag und den Kampf für einen Friedensvertrag, wie er von Moskau vorgeschlagen worden war, in den Vordergrund und wählte dafür die fünfspaltige Schlagzeile: „30.000 Jugendliche gaben das Beispiel“. Sie übernahm damit eine Zahl, die von der Polizei in Umlauf gesetzt worden war. Die Veranstalter selbst hatten – wie erwähnt – nur 20.000 Teilnehmer erwartet.
Den Lesern wurde das Geschehen aufgrund meiner Beobachtungen so geschildert: Als hunderte von bewaffneten Polizisten versucht hätten, die Jugendlichen auseinander zu knüppeln, hätten sich die tapferen Friedenskämpfer, unter ihnen Pfadfinder, Falken, christliche Jugendliche, junge Gewerkschafter und FDJler in unmittelbarer Nähe der Gruga spontan zu einem mehrere hundert Meter langen Demonstrationszug formiert. „Transparente wurden entrollt, auf denen zu lesen stand: ›Wir fordern Viermächteverhandlungen! Friedensvertrag statt Generalvertrag!‹ Dabei kam es zu einem der ungeheuerlichsten Ereignisse seit Kriegsende: Etwa 20 Polizeibeamte eröffneten das Feuer auf die friedlich demonstrierende Jugend. Es gab mehrere Verletzte. Dieses Massaker ist ein Alarmruf. Was sich gestern in Essen ereignete, die Eröffnung des Feuers auf die deutsche Jugend, mahnt zur Tat: Das sind die Vorboten des Generalvertrages, mit dem über Westdeutschland ein Terror-Regime verhängt werden soll.“ Das Wortgedröhn zeigt, wie verbissen die politische Auseinandersetzung damals geführt wurde. Als der Artikel in Satz ging, wusste die Redaktion noch nichts von dem eigentlich wichtigen Ereignis, dem Tod Philipp Müllers. In einem kleinen Kasten auf der ersten Seite hieß es: „Kurz vor Redaktionsschluss erreicht uns die Nachricht, dass der bei dem feigen Feuerüberfall der Adenauerpolizei auf die Teilnehmer der Jugendkarawane in Essen durch einen Schuss in den Rücken schwer verwundete 21-jährige junge Freiheitskämpfer Philipp Müller aus München-Neuaubing im Krankenhaus an den Folgen der Schussverletzung gestorben ist.“
Propagandistisch waren die Fronten damit abgesteckt. Die einen behaupteten, als erste hätten Demonstranten geschossen, die anderen erklärten, Polizisten hätten das Feuer eröffnet. Was war wirklich geschehen? Die Antwort auf diese Frage entschied nicht nur über Schuld oder Unschuld, sondern auch über Sieg oder Niederlage in einer Schlacht des Kalten Krieges. Aber es standen noch andere Fragen im Raum. Von einem »Schusswechsel“ vor den Toren der »Gruga«“, bei dem Philipp Müller getötet worden sei, war die Rede. Bei einem Schusswechsel werden in rascher Folge von beiden Seiten Schüsse abgegeben. Hat es einen solchen Feuerwechsel überhaupt gegeben und wo hat er stattgefunden? Und schließlich: Wie starb Philipp Müller wirklich? Von einem „Brustschuss“ sprach die „Neue Ruhrzeitung“, von einem „Schuss in den Rücken“ die „Neue Volks-Zeitung“. „Werden wir richtig informiert“ fragte Karl Jaspers 1964. Obwohl keine staatliche Zensur existiere, gebe es eine Ungewissheit und Unruhe bei Lesern, Redakteuren und Schriftstellern, ob die Öffentlichkeit erfahre, „was wir wissen sollten, nämlich die zur Orientierung in unserer Situation und die für unsere Willensbildung entscheidenden Tatsachen, Vorstellungen und Gedanken“. Große Journalisten, fuhr Jaspers fort, erzeugten die öffentliche Wahrhaftigkeit. „Wir schmeicheln ihnen nicht, wenn wir ihren hohen Beruf preisen.“ Der Journalist habe auch über „ihm unerwünschte Tatsachen“ zu berichten.
Fortsetzung folgt
Propagandistisch waren die Fronten damit abgesteckt. Die einen behaupteten, als erste hätten Demonstranten geschossen, die anderen erklärten, Polizisten hätten das Feuer eröffnet. Was war wirklich geschehen? Die Antwort auf diese Frage entschied nicht nur über Schuld oder Unschuld, sondern auch über Sieg oder Niederlage in einer Schlacht des Kalten Krieges. Aber es standen noch andere Fragen im Raum. Von einem »Schusswechsel“ vor den Toren der »Gruga«“, bei dem Philipp Müller getötet worden sei, war die Rede. Bei einem Schusswechsel werden in rascher Folge von beiden Seiten Schüsse abgegeben. Hat es einen solchen Feuerwechsel überhaupt gegeben und wo hat er stattgefunden? Und schließlich: Wie starb Philipp Müller wirklich? Von einem „Brustschuss“ sprach die „Neue Ruhrzeitung“, von einem „Schuss in den Rücken“ die „Neue Volks-Zeitung“. „Werden wir richtig informiert“ fragte Karl Jaspers 1964. Obwohl keine staatliche Zensur existiere, gebe es eine Ungewissheit und Unruhe bei Lesern, Redakteuren und Schriftstellern, ob die Öffentlichkeit erfahre, „was wir wissen sollten, nämlich die zur Orientierung in unserer Situation und die für unsere Willensbildung entscheidenden Tatsachen, Vorstellungen und Gedanken“. Große Journalisten, fuhr Jaspers fort, erzeugten die öffentliche Wahrhaftigkeit. „Wir schmeicheln ihnen nicht, wenn wir ihren hohen Beruf preisen.“ Der Journalist habe auch über „ihm unerwünschte Tatsachen“ zu berichten.
Fortsetzung folgt
Foto: (c) dkp-ruhr.de