Erinnerung an den ersten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung am 20. Juni, der an den Weltflüchtlingstag angehängt wurde
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Was ich über die Frau in der Zeitung las war so furchtbar, dass ich es einfach nicht glauben wollte. Zehn Jahre alt sei sie gewesen, als sie mit ansehen musste, wie Säuglinge aus ihrem Kinderwagen gerissen und „zum Tontaubenschießen in die Luft geworfen wurden“. Ich besorgte mir das Redemanuskript.
Dort stand es Schwarz auf Weiß: „Auch ich hatte 10-jährig im Jahr 1945 Angst, erschlagen oder erschossen zu werden, als man Säuglinge aus dem Kinderwagen riss, in die Luft warf und wie Tontauben abschoss“.
Gegen wen richtete sich die furchtbare Anklage, die da am ersten Gedenktag für die deutschen Opfer der Vertreibung vor zwei Jahren in Berlin erhoben wurde? Die Rednerin stammte aus dem so genannten Sudetenland, also aus den deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei. Wer beschuldigt wurde, konnte demnach nicht zweifelhaft sein. Ich habe als heimkehrender Soldat eigene Erfahrungen gemacht mit verblendeten Tschechen, gehöre also nicht zu denen, die das entsetzliche Geschehen während der „wilden Vertreibungen“ in den ersten Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Abrede stellen. Die Opfer waren in der Regel Erwachsene. Dass Säuglinge umgebracht wurden, war mir neu und ich begann zu recherchieren.
Noch einmal vertiefte ich mich in die vielen hundert Leidensberichte Betroffener, die 1952 in dem Band „Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen“ erschienen sind und fand darüber keine einzige Zeile. Ich befragte Historiker und wandte mich an die Botschaft der Tschechischen Republik in Berlin. Die leitete meine Anfrage an die deutsch-tschechische Historikerkommission, der nachweisbare Fälle der geschilderten Art nicht bekannt waren. Alles also ein Produkt kindlicher Phantasie? Nach der Schilderung von Zeitzeugen gehörte die Zehnjährige einem Vertriebenentransport an, dessen Angehörige zur fraglichen Zeit zu Fuß entlang der Elbe nach Deutschland getrieben wurden. Niemand von ihnen hat jemals etwas von einem Tontaubenschießen auf Säuglinge erzählt. Inzwischen üben sich selbst die Scharfmacher der Sudetendeutschen Landsmannschaft in neuen Tönen gegenüber den Menschen jenseits des Böhmerwaldes. Wahrscheinlich hat ihnen die bayerische Landesregierung als Nährmutter signalisiert, dass es aus und vorbei sein könnte mit der staatlichen Alimentierung, sollten sie weiter als Störenfriede ihr Unwesen treiben.
Als die Bundesregierung 2014 beschloss den 20. Juni zusammen mit dem Weltflüchtlingstag als Tag des Gedenkens an die Opfer der Vertreibung zu begehen, war sie sich der Zwiespältigkeit ihres Handelns anscheinend bewusst. Aber sie fühlte sich gegenüber dem Bund der Vertriebenen und dessen Vorsitzender Erika Steinbach im Wort. Die ist inzwischen aus der CDU ausgetreten und hat sich als Unterstützerin der AfD geoutet. Seit der 27. Januar als offizieller Gedenktag für die Opfer des Naziregimes begangen wird, drängte Erika Steinbach auf einen Gedenktag, der die Sieger des Zweiten Weltkriegs und die ehemals kommunistisch regierten Staaten wegen der Vertreibung der Deutschen an den Pranger stellt. Als er 2015 erstmals begangen wurde, erinnerte Bundesinnenminister Thomas de Maizière 2015 daran, dass „Flucht und Vertreibung der Deutschen auch die Folge des von Deutschen über Europa gebrachten Unrechts“ gewesen seien. Das habe „für manche den Umgang mit dem Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen schwierig“ gemacht.
Die Schwierigkeiten rührten aber auch daher, dass die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ die Vertriebenen als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“ bezeichnete. Soviel Selbstgerechtigkeit konnte nicht ohne Folgen bleiben, zumal da zahlreiche Mitverfasser des umstrittenen Dokuments der Nazipartei angehört haben. Doch das ist ein Kapitel für sich, das vor dem Hintergrund eines weltweiten Flüchtlingsstroms von mehr als 60 Millionen Menschen gelesen werden muss.
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