Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Lied der Gruppe „Ton Steine Scherben“ und ihres Frontmanns Rio Reiser von 1970 ist vermutlich einigen, die den G20-Gipfel in Hamburg kritisch verfolgen, noch im Gedächtnis.
Und Karl Marx‘ Bemerkung „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt; allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“ (aus der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) ist spätestens seit den Studentenprotesten von 1968 ein (Streit-) Thema der antiautoritären Linken.
Sowohl bei dem Lied als auch bei der philosophischen These geht es um Veränderung.
So gesehen kann der gewaltfreie Protest vieler Menschen zur konkreten und materiellen Theorie werden, wenn er auf offenkundige Missstände hinweist und Alternativen aufzeigt. Dies gilt auch für Gesellschaften mit demokratischer Willensbildung. Denn dieser Prozess ist einer zunehmenden inhaltlichen Verflachung ausgesetzt. Wer die Fragen zur „Sonntagsfrage“ der ARD zum Wählerverhalten analysiert, kann durchaus zu dem Schluss gelangen, dass die Gesellschaft intellektuell retardiert. Und dass man einer um das kritische Bewusstsein gebrachten Bevölkerung nur noch auf Sonderschulniveau begegnen kann.
Der Protest besitzt folglich einen janusköpfigen Charakter. Er kann lediglich Aufschrei sein und wirkungslos verhallen, aber auch einen qualitativen Schritt zur Überwindung sozialen und moralischen Elends bedeuten. In jedem Fall ist er eine Bekundung des Missfallens und gilt als Appell an die Vernunft und die Verantwortungsbereitschaft der gewählten und nicht gewählten politischen Repräsentanten. Ein nennenswerter Teil der Hamburger Demonstranten dürfte sich so verstehen.
Allerdings ist es zweifelhaft, ob ein reiner Protest bei den Mächtigen in Staaten wie China, Russland, der Türkei oder den USA auf Verständnis stößt. Die Regierungen dieser Länder repräsentieren zwar nahezu zwei Drittel der Weltbevölkerung. Doch diese Staaten sind u.a. dadurch gekennzeichnet, dass ihren Bevölkerungen kaum bis gar nicht das Recht zugestanden wird, ihre Meinungen zu artikulieren und ihre Stimmen in eine demokratische Wahlurne zu werfen. Angesichts dieser Realitäten kann man sich fragen, was Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg eigentlich nützen; ganz unabhängig davon, ob sie friedlich ablaufen oder als Gewaltexzesse.
Vermutlich hoffen dennoch viele, die auf der Straße demonstrieren, auf einen allmählichen Bewusstseinsprozess, der nicht zuletzt durch ihre Aktionen in Gang kommen soll. Exakt an diesem Punkt der Überlegungen lohnt es sich, Marx‘ dialektische Kritikdefinition aufzugreifen. Ihr zufolge ist eine Theorie, die zum Massenphänomen wird, mindestens so viel Wert wie Gewehre, Panzer und Raketen. Es ist jedoch notwendig, dort anzusetzen, wo viele konkret betroffen sind. Diese Betroffenheit hat längst die je eigene Haustür erreicht. Denn die weltweite Klimakatastrophe, die Allmachtpolitik der Banken und Finanzheuschrecken und die Auswirkungen der asozialen Globalisierung verunsichern den Normalbürger.
Die Verursacher dieser Bedrohungen verfügen auch in Deutschland über Niederlassungen, manche sind gar Eigengewächse dieses Landes. Wären das nicht die allerersten Orte für einen permanenten Protest? Ein solcher könnte, würde er phantasievoll inszeniert, tatsächlich eine Signalwirkung entfachen.
Goethe hat in seinem Theaterstück „Iphigenie auf Taurus“ auf das gute Beispiel gesetzt, das allgemein Schule machen würde, vorausgesetzt, es wäre nachvollziehbar. Damit orientierte er sich am Humanitätsideal der deutschen Klassik.
Zwar vermögen die Montagsdemonstrationen auf dem Frankfurter Flughafen bislang nicht, diese Umweltvernichtungsmaschinerie entscheidend zu schwächen. Aber die sich ausbreitende Stimmung gegen Fluglärm und Kerosinregen hat dazu beigetragen, dass die CDU die Oberbürgermeisterwahl 2012 verlor. Und die ökologischen Kleider der Grünen in Hessen sind seither so transparent geworden, dass Egoismus und Selbstgerechtigkeit unschwer zu erkennen sind und keinen Raum für Feigenblätter lassen. Regelmäßige Demonstrationen vor Großbanken, Automobilunternehmen, Immobiliengesellschaften und Luxushochhäusern besitzen nach meiner Einschätzung ein erheblich größeres Veränderungspotential als kluge Sprüche gegen Donald Trump, der diese, selbst falls er sie begriffe, nie befolgen würde.
Foto: Proteste gegen G20 in Hamburg © Der Spiegel