Gedanken zu einem Kampfbegriff
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Vorwurf des Neids zählt zu den Lieblingsphrasen von FDP und CDU/CSU. Die Unterstellung, jemand besäße keine überzeugenden Argumente für soziale Forderungen und bediene sich stattdessen lediglich des Neids und der Missgunst, wird dann gebraucht, wenn es um Wesentliches geht.
Denn damit soll eine Debatte über den eigentlichen Gegenstand der Auseinandersetzung überhaupt nicht erst aufkommen. Diese könnte möglicherweise ans Tageslicht fördern, was gern weiter ungesagt bleiben soll.
Der emeritierte Soziologie-Professor Michael Hartmann (Darmstadt) bezeichnete das Schlagwort vom Sozialneid als bloße Schimäre (in „Kursbuch 143“, erschienen 2001). Dieses sei ein pauschaler Begriff mit dem Kritiker der Neidgesellschaft das Bedürfnis nach einer Debatte über soziale Gerechtigkeit zu diffamieren versuchten. In der wissenschaftlichen Forschung spiele Sozialneid jedoch keine Rolle. Aus soziologischer Sicht entstünde Neid in erster Linie unter Vertretern vergleichbarer Sozialverhältnisse.
Michael Hartmann, der sich auch einen Namen als kritischer Elitenforscher gemacht hat, verweist auf die wissenschaftlich untermauerte Beobachtung, dass der Neidvorwurf unterstellt, dass der Wunsch des Neidenden nicht gerechtfertigt, also letztlich nur egoistisch motiviert sei. Darum sei stets zu hinterfragen, ob er nicht von der bevorteilten Seite zur Diskreditierung des Gerechtigkeitssinnes der benachteiligten Seite im Sinne eines Kampfbegriffes verwendet würde.
Der konservative Soziologie Helmut Schoeck veröffentlichte 1966 eine sehr grundlegende Abhandlung zu diesem Thema, die zum Bestseller wurde: „Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft“. Nach seiner Meinung erzeuge kein anderes gesellschaftliches Motiv so viel Konformität wie die Furcht, bei anderen Neid zu erwecken und dafür geächtet zu werden. Erst durch die Fähigkeit, sich gegenseitig durch den Verdacht auf Neid zu kontrollieren, sei die Bildung von Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben sozial möglich geworden. Diese Ansicht wird jedoch von der Mehrheit der Soziologen bestritten.
Das DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH erklärt den Sprachgebrauch des Wortes so: „Empfindung, Haltung, bei der man jemandes Besitz oder Erfolg nicht gönnt und selbst haben möchte.“ Eifersucht, Missgunst und Übelwollen sind die häufigsten Synonyme. Die Neidgesellschaft hingegen wird vom DUDEN als „Gesellschaft, in der große Teile der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass Einkommen, Vermögen und Besitz ungerecht verteilt sind“, definiert.
Doch hinter dem Neidgefühl verbirgt sich nicht nur eine Kritik am Besitz oder Erfolg eines anderen bzw. an deren Zustandekommen, es kann auch eine nicht offen artikulierte Hochachtung enthalten. Vom Philosophen Arthur Schopenhauer ist der Ausspruch überliefert: „In Deutschland ist die höchste Form der Anerkennung der Neid.“ Der Maler und Dichter Wilhelm Busch soll Ähnliches geäußert haben.
Wer in der gegenwärtigen Diskussion über ein gerechtes Steuersystem beispielsweise den besonders Reichen einen vollständigen Staatsbürger-Mitgliedsbeitrag entsprechend ihrem Vermögen abverlangt (also die komplette Besteuerung der Einkünfte und sonstigen materiellen Güter), missgönnt ihnen ihre Schätze gar nicht. Er anerkennt ihre Besitztümer sogar ausdrücklich; drängt jedoch auf deren Offenlegung und erinnert an den Gesellschaftsvertrag jedes demokratischen Gemeinwesens. Ein solcher zielt (in Anlehnung an den Entwurf des Philosophen Jean-Jacques Rousseau von 1762) auf die Beteiligung aller und auf das Wohl derselben.
Kein Demokrat, erst recht kein Sozialist, will den Reichtum verbieten. Er möchte ihn jedoch zum Nutzen aller verwenden. Meinetwegen kann man diese ehrliche Form der Anerkennung als Neid bezeichnen. Hauptsache, es trägt dazu bei, Armut und Elend zu beenden bzw. zu vermeiden.
Foto: Umschlagabbildung „Hartmann_Der Mythos der Leistungseliten“ © Campus Verlag