kpm Niqab c Reuters 1Verschleierung als höchste Stufe weiblicher Selbstbestimmung?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Von außen betrachtet, scheint der Islam von einer alles dominierenden orthodoxen Richtung geprägt zu sein, die sich gegen jede historisch-kritische Aufarbeitung seiner Offenbarungsschriften, seines Menschen-, speziell Frauenbilds, seiner Wirkungsgeschichte und gegen das Religionsverständnis einer säkularen Gesellschaft vehement wehrt.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Frauenrechtlerin und Publizistin Seyran Ates, die vor sechs Wochen eine liberale Moscheegemeinde in Berlin gründete, seither massive Drohungen aus dem konservativ-islamischen Spektrum erhält. Die Polizei schätzt diese als gefährlich ein und stellt Beamte zu ihrem Schutz ab. Das vermeintlich Revolutionäre, das Frau Ates initiierte, wird von selbstbewussten Bürgern hingegen als normal wahrgenommen. Denn in der neuen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee können Frauen und Männer gemeinsam in einem Raum beten, sitzen dabei auch nebeneinander und Frauen mit Kopftuch sind die Ausnahme; sie werden allerdings auch nicht ausgeschlossen. Außerdem wird konsequent Deutsch gesprochen. All das fordert Fundamentalisten offensichtlich heraus. Obwohl Seyran Ates nicht mit breitem Beifall aus der muslimischen Community gerechnet hat, zeigt sie sich von der Massivität der Vorwürfe verletzt. Besonders schmerzt es sie, dass diese Missachtungen auch von Frauen geäußert werden.

„Jetzt fallen endlich die Masken“, sagt sie in einem Interview. „Die ganze Kopftuchdebatte ist mangelnde Demokratiefähigkeit, mangelnde Integrationswilligkeit, mangelnde Akzeptanz der Gleichberechtigung der Geschlechter.“ Enttäuscht zeigt sie sich auch von deutschen Feministinnen, weil diese Kopftuch und Burka verteidigten, ohne deren Bedeutung hinreichend zu analysieren. Die gesamte islamische Welt unterdrücke Frauen, betrachte diese als Gegenstände und Eigentum der Männer. Solange es Länder gebe, in denen Frauen gezwungen würden, sich zu verschleiern, könne man nicht behaupten, das Kopftuch sei ein Ausdruck von Freiheit.

Doch der Islam erweist sich bei genauer Betrachtung längst nicht mehr als eine monolithische Einheit. Bereits im Februar 2015 haben vier muslimische Intellektuelle, Ghaleb Bencheikh, Anwar Ibrahim, Felix Marquardt und Tariq Ramadan, in einem Manifest den Konservativen vorgeworfen, dass sie „die Dominanz eines sklerotischen, arabozentristischen Islam, der auf einer obsoleten Sicht der Welt“ basiere, rechtfertigten und diese Anschauung als die einzig mögliche ausgäben.

Angesichts des Terrors von IS, Boko Haram oder Taliban sei es an der Zeit, „die romantisierenden und nostalgischen Vorstellungen zu hinterfragen, die in muslimischen Mehrheitsgesellschaften tonangebend“ seien. Es müsse ein Ende damit haben, „kulturelle Engstirnigkeit als religiöses Dogma“ auszugeben. Muslime müssten endlich erkennen, wo der Islam (also die eigentliche religiöse Offenbarung) endet und wo regionale kulturelle Riten (z.B. die Verschleierung der Frauen oder ein atavistischer Begriff von Ehre) begännen. Folglich sei es auch angezeigt, „die Legitimität bestimmter politischer und sozial rückständiger Länder infrage zu stellen, die darüber entscheiden, was islamisch ist und was nicht und wer ein guter Muslim ist und wer nicht“.

Diese Forderungen entsprechend weitgehend auch dem Islamverständnis des Liberalislamischen Bundes in Deutschland, der 2010 gegründet wurde. Eine prominente Vertreterin dieses Bundes ist die frühere Bundestagsabgeordnete Lale Akgün (SPD). Sie tritt für einen aufgeklärten Islam ein, der sich beispielsweise an der Menschenrechtserklärung der UN orientiert und nicht weiterhin an der „Kairoer Menschenrechtserklärung“ von 1990, die auf der Scharia und auf einem autoritären Verständnis von Mensch, Familie und Gesellschaft gründet.

Auch warnt sie davor, einen islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu akzeptieren, der im Kern nichts anderes sei als die Fortsetzung der reaktionären Koranschulen. Nicht zuletzt dort würden die Grundlagen gelegt für einen extrem schlichten Islam, der auf Unterordnung, Gehorsam und Strafe reduziert sei. Nicht mehr der durchaus interpretations- und reformfähige Koran stünde im Mittelpunkt, sondern eine jahrhundertealte autoritäre Praxis. Und das bedeute letztlich ein Leben zu führen nach den Regeln, die im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel galten.
Die Politikerin weist in diesem Zusammenhang wiederholt auch darauf hin, dass in islamischen Ländern kaum gelesen würde, außer in Schulbüchern. Unter Bildung würde vor allem das Auswendiglernen verstanden. Das schließe religiöse und gesellschaftliche Reflexion von vornherein aus. Es sei auch nicht zu akzeptieren, dass der Verein DITIB, welcher der türkischen Religionsbehörde unterstehe, den Islamunterricht an deutschen Schulen organisiere.
Den deutschen Muslimen rät sie, sich von unzureichenden Relativierungen zu verabschieden und stattdessen die Kernaussagen des Korans auf ihre Bedeutung für das Hier und Jetzt zu befragen und eine Ethik für das demokratische Zeitalter zu entwickeln.

Offenbarungsreligionen wie Judentum, Christentum und Islam haben grundsätzlich ein Problem damit, die Glaubenszeugnisse, auf denen sie fußen, in einem historischen Licht zu verstehen. Denn in jeder Religion spiegeln sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, in deren Kontext sie einst entstanden waren.

Die jüdischen Gelehrten, die etwa 400 Jahre vor Christi die überlieferten Schriften in der Hebräischen Bibel, dem Tanach (das Wort ist zusammengesetzt aus Tora = Weisungen, Neviim = Propheten, Ketubim = Schrifttum), neu ordneten, wollten bewusst den Zeitbezug der jeweiligen Überlieferungen nicht verschweigen, sondern anhand der unendlich vielen und dem aufmerksamen Leser auffallenden Widersprüche den Weg einer Religion vom götzenähnlichen archaischen Gott Israels zum völlig abstrakten, namenlosen Gott („Ich bin, der ich sein werde“; Exodus 3,14) deutlich machen.
Auch die jüdischen Denker des Exils (z.B. Philo von Alexandria mit seiner negativen Theologie - Gott ist nicht an menschlichen Kategorien ermessbar) und des europäischen Mittelalters (z.B. Maimonides, dem entschiedenen Gegner formaler Religionsgesetze) folgten dieser kritischen Tradition, die bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein andauerte (z.B. der Neukantianer Hermann Cohen und der Reformrabbiner Leo Baeck). Erst der deutsche Faschismus machte dem ein Ende. In Israel hingegen ist diese aufgeklärte, liberale Linie weitgehend einem orthodoxen bis ultraorthodoxen Fundamentalismus gewichen.

Das Christentum, das sich in der spätrömischen, noch stark vom griechischen (Götter-) Denken beeinflussten Antike aus jüdischen Wurzeln bildete, hatte das im Judentum angelegte dynamische Wesen Gottes bzw. der Gottesvorstellung entweder nicht hinreichend verstanden oder wollte es bewusst nicht verstehen. Der abstrakte, namenlose JHWH wird dort zum Oberhaupt einer Götterfamilie (Vater, Sohn und Heiliger Geist; bei den Katholiken gibt es als Zugabe noch die Gottesmutter Maria) und man fühlt sich unwillkürlich an die Welt des Zeus erinnert.

Der Islam, der ähnlich wie das Christentum die jüdische Vätergeschichte aufgreift, Jesus aber den Propheten Allahs zurechnet, hat diese Relativität der Überlieferungen, die vom Judentum relativ früh und vom Christentum ziemlich spät anerkannt wurde, kaum berücksichtigt; in der Alltagspraxis spielen theologisch-wissenschaftliche Erkenntnisse weithin keine Rolle. Das liegt nachweislich auch an der feudalen Struktur von irdischer Welt und Paradies, so wie diese im Koran beschrieben sind und die unkritisch in jedes neue Zeitalter weitergereicht wurden.

Mehr noch als die Reformation hat im Christentum die Aufklärung eine historisch-kritische Auseinandersetzung angestoßen. Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit der Leben-Jesu-Forschung (von Albert Schweitzer in einer historischen Gesamtdarstellung erschöpfend zusammengefasst) und ohne diese wäre die von Rudolf Bultmann begründete Entmythologisierung des Neuen Testaments nicht möglich gewesen. Die Überzeugung, dass die Evangelien Glaubenszeugnisse darstellen, aber keine historisch objektiven Berichte sind, gehört mittlerweile zu den Grundlagen der modernen evangelischen Theologie, der sich auch die Katholische Kirche nicht verschließen konnte, selbst wenn diese Erkenntnisse vielfach dem Klerus vorbehalten bleiben und keinen Eingang in die Gemeinden finden.

In Bultmanns Hauptwerk „Neues Testament und Mythologie“ kann man beispielsweise lesen:
„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“

Ähnliche Schritte in die Moderne hat der Islam, zumindest mit einer Bedeutung für die Allgemeinheit seiner Gläubigen, nicht gemacht. Nach wie vor prägt das alte, feudale Arabien die Vorstellungen der Muslime. Und diese Vorurteile werden noch bestätigt durch die heutigen politischen Verhältnisse in der arabischen Welt, die von Demokratie und Emanzipation Jahrhunderte entfernt scheinen.

Die Bewusstlosigkeit bzw. Ahnungslosigkeit der Gläubigen hinsichtlich der ursprünglichen Absichten der von Mohammed herbeigeführten religiösen und moralischen Wende leider zu einem Kennzeichen dieses Glaubens geworden.

Ähnliches gilt jedoch auch für die vor allem in ländlichen Regionen anzutreffende christliche Volksfrömmigkeit. Der evangelikale Biblizismus, der im Mittelwesten der USA anzutreffen ist, sei hier besonders erwähnt.

Sämtliche heiligen Bücher sowie religiösen Riten und Praktiken können lediglich beweisen, dass die Menschheit seit Jahrtausenden über die Existenz (eines) Gottes nachdenkt und dass Einzelne und Gemeinschaften der Überzeugung waren (und sind), diesen in je unterschiedlichen Offenbarungen gefunden zu haben. Doch aus Nachdenken, Zeugnis ablegen und Glaubenspraxis allein lassen sich erfahrungswissenschaftlich nur eben diese Empfindungen und Tätigkeiten ableiten. Denn de facto sind sie lediglich Eingebungen aus dem Nichts, die nicht dazu berechtigen, von einem geglaubten X auf ein allgemeinverbindliches Y schließen zu dürfen.

Einen hilfreichen Gottesbegriff lieferte der skeptische Philosoph Wilhelm Weischedel (1905-1975. In seinem Hauptwerk „Der Gott der Philosophen“ (erschienen 1971/72) widerspricht er allen Versuchen, Gott substanzhaft zu denken. Gott oder das Göttliche seien lediglich das Vonwoher der Fraglichkeit bei der Suche nach dem Sinn menschlichen Lebens. Je tiefer man in diese Suche einsteige, umso mehr nehme auch die Fraglichkeit zu. Dies führe in letzter Konsequenz dazu, dass die Frage nach Gott offenbleiben müsse, da sie letztlich nicht beantwortet werden könne.



Foto
Muslimische Frauen mit Niqab, © Reuters

Info:
Siehe hierzu auch den Weltexpresso-Beitrag

https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/10174-ist-der-islam-reformierbar