Sind Sprach- und Denkmuster der NS-Ideologie nicht mehr tabu?
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Möglicherweise können sich einige Weltexpresso-Leser noch an eine Äußerung des Schriftstellers und Dramatikers Rolf Hochhuth erinnern.
Der sprach 1978 im Zusammenhang mit dem damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger von „furchtbaren Juristen“. Er bezog das auf Filbingers Tätigkeit als Marinerichter in der deutschen Wehrmacht und auf dessen Todesurteil gegen einen jungen Matrosen, der kurz vor dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs der Vernichtungsmaschinerie entfliehen wollte.
72 Jahre nachdem die Testamentsvollstrecker des NS-Regimes die bedingungslose militärische Kapitulation unterschreiben mussten und damit auch das moralische Desaster Deutschlands nicht länger beschönigen konnten, wird die NS-Gewalt, speziell der Holocaust, in Limburg an der Lahn anscheinend wieder salonfähig gemacht. Da fragt man sich, ob diese Stadt der Entnazifizierung durch die Alliierten 1945/46 möglicherweise entgangen war und ob eine solche nicht dringend nachgeholt werden müsste.
Den Anstoß gab ein örtlicher Finanzunternehmer und Geschäftspartner mehrerer Kommunen, CDU-Mitglied und Sponsor von Sportvereinen, der als Antwort auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen am Rande des G20-Gipfels in Hamburg in seinem Internet-Blog zu einem „kleinen Holocaust“ aufrief. Was nichts anderes bedeutete als die systematische Vernichtung einer definierten Personengruppe.
Eine derartige Verwegenheit rief demokratisch gesinnte Bürger auf den Plan, die den Mann wegen des Verdachts der Verharmlosung des Holocausts und der Volksverhetzung anzeigten. Doch die zuständige Staatsanwaltschaft in Limburg lehnte die Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens ab. Da der Fall mittlerweile Schlagzeilen in den Medien produziert, nahm der verantwortliche Jurist, Oberstaatsanwalt Hans-Joachim Herrchen, dazu in einem Interview mit der NNP Stellung. Dessen Argumentation erscheint vor dem Hintergrund der 2015 und 2005 erfolgten Änderungen des § 130 Strafgesetzbuch jedoch als nicht plausibel.
Es lohnt sich darum, einen Blick in das Strafgesetzbuch zu werfen:
130, Absatz 1, lautet:
"Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft."
Absatz 2 bezieht sämtliche öffentlichen Äußerungen in Wort, Schrift und Bild, die die in Absatz 1 genannten Tatbestandsmerkmale erfüllen, in die Strafandrohung ein.
Absatz 3 schließlich erweitert den Personenkreis eindeutig auf alle, die „eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 Völkerstrafgesetzbuch bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigen, leugnen oder verharmlosen“.
Oberstaatsanwalt Herrchen hingegen verweist zunächst auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, obwohl das Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 4. November 2009 den § 130, Absatz 4 (Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, die den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise stört), keineswegs in Konkurrenz zu Artikel 5, Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit) sah. Zwar handele es sich um eine Sonderbestimmung, die aber angesichts der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, das als ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus zu verstehen sei, uneingeschränkte Rechtsgültigkeit besäße.
Geschützt seien nach Meinung des Oberstaatsanwalts vor allem abzugrenzende Gruppen. Darunter fielen beispielsweise Türken oder Flüchtlinge. Aber nicht die Fangemeinde eines Fußballvereins oder die Mitglieder eines „Schwarzen Blocks“, weil diese jederzeit ihre Zugehörigkeit aufkündigen könnten. Die Verharmlosung des Holocausts und der Aufruf zu dessen Anwendung zum Nachteil nicht abgrenzbarer Gruppen wären demnach nicht strafbar.
Im Gegensatz dazu hat das Landgericht Mannheim im Verfahren gegen den Holocaustleugner Ernst Zündel, das einschließlich der Folgeverfahren von 2006 bis 2009 andauerte, die Verwendung von Denk- und Sprachmustern der NS-Ideologie, insbesondere in Verbindung mit der Verbreitung von Hassbotschaften, völlig anders bewertet. Die Prozessbevollmächtigte des Angeklagten, Rechtsanwältin Sylvia Stolz, ließ in ihren mündlichen und schriftlichen Einlassungen jede Distanzierung zur Holocaustleugnung und Holocaustverharmlosung vermissen. Das Gericht entzog der Anwältin daraufhin die Verteidigung und verurteilte sie später zu einer mehrjährigen Haftstrafe sowie zu einem längeren Berufsverbot. Vom Bundesgerichtshof wurden sämtliche ihrer Revisionsanträge verworfen.
Soweit bekannt wurde, haben die Bürger, deren Strafanträge von Oberstaatsanwalt Herrchen abgelehnt wurden, dagegen Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt eingelegt. Deren Entscheidung steht noch aus. Vielleicht ist eine Schlagzeile wie »Aufruf zum „kleinen Holocaust“ in Deutschland nicht strafbar« nicht zu befürchten. Aber warten wir es ab.
Foto:
Wandspruch im Keller des Alten Gerichts in Wiesbaden. © ZDF