Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Was vielen in diesen Tagen vor der Bundestagswahl so auf den Geist geht, nämlich dass Medien und Parteien den Eindruck erwecken, unser aller Schicksal stehe am 24. September auf dem Spiel, ist in Wirklichkeit eine Sache von ganz wenigen.
Es beginnt schon damit, dass nur 1,7 Prozent der Einwohner Deutschlands einer Partei angehören. Von diesen 1,7 Prozent nehmen erfahrungsgemäß nur ganz wenige am Parteileben teil, von denen wiederum nur eine Handvoll die mühselige Kärrnerarbeit an der Basis verrichtet. Mit dem politischen Interesse der Menschen außerhalb der Parteien verhält es sich ähnlich. Demokratie sei schon immer ein Projekt der Eliten gewesen, konstatierte die Historikerin Hedwig Richter kürzlich auf einer Diskussionsveranstaltung im Hamburger Institut für Sozialforschung. (Süddeutsche Zeitung, 8.September 2017, S.11).
Was diese so genannten Eliten zuwege bringen und nach dem Motto „Vogel friss’ oder stirb“ dem Wahlvolk alle vier Jahre zur Entscheidung vor die Füße werfen, entspricht nicht immer dem Anspruch, mit dem sie auftreten, und es entspricht in der Regel auch nicht den Bedürfnissen und Ängsten jener Menschen, denen am dringendsten geholfen werden müsste. Was haben sie zum Beispiel den Bewohnern des Münchner Stadtteils Hasenbergl zu bieten, wo 93 Prozent von den 250 Kindern einer Grundschule zu Hause kein Deutsch sprechen und die Beteiligung bei Elternabenden trotz gezielter Aktionen bei zwei Prozent liegt?
Darüber wird im nächsten Bundestag gesprochen werden müssen, wenn dort die AfD Einzug gehalten haben wird. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Zeit der gepflegten Diskussionen dann vorbei ist“, meinte der Politikberater Michael Spreng im Interview mit dem Bremer „Weser-Kurier“ vom 16. September. „Zum ersten Mal seit 60 Jahren werden dort wieder ausgemachte Rechtsradikale sitzen, wie der Richter Jens Meier aus Sachen, der den ‚Schuldkult’ für beendet erklärt hat. Oder der frühere Polizist Wilhelm von Gottberg aus Niedersachen, der den Holocaust als ‚Mythos’ bezeichnet.“ Werden sie den Bundestag in Anlehnung an eine Äußerung Kaiser Wilhelms II. über den Reichstag zur „Schwatzbude“ machen?
Demokratie setze den gebildeten Citoyen voraus, forderte der in Prag geborene Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, der 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nazis aus seinem Amt als Professor für Völkerrecht an der Universität in Köln vertrieben worden ist. Welchen Bildungsstand kann man bei Leuten voraussetzen, die so daherreden wie die Genannten oder der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland, der da meinte, die Deutschen dürften stolz sein auf „die Leistungen deutscher Soldaten“ im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Ein wohlfeiles Thema, mit dem sich gut im Trüben fischen lässt. Welche Familie stellt sich da nicht gleich vor den im Krieg gefallen Großvater?
Für die anderen liegen die beiden Weltkriege in unendlicher Ferne; sie lassen sich für heutige Zwecke kaum noch instrumentalisieren. „Viele Menschen denken bei ‚Nie wieder!’ an ‚Nie wieder Krieg. Nie wieder Konzentrationslager, nie wieder Leichenberge!’ Das alles will ja wirklich keiner, aber wird denn daran gedacht, dass mit ‚Nie wieder!’ vor allem eine Politik gemeint ist, die zu diesen Verbrechen führt? Darum geht es! Es geht darum, eine Gesellschaft zu schaffen, in der es Rahmenbedingungen für ein Leben in Würde und sozialer Gerechtigkeit gibt und in der der Gedanke von Menschenverachtung und –vernichtung nicht mehr aufkommt.“ So der Schriftsteller und Philosoph Robert Menasse im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt. (Neues Deutschland 16./17. September 2017). Kein schlechter Gedanke wenige Tage vor der Bundestagswahl am 24. September, auch wenn sich nichts daran ändert, dass Demokratie ein Projekt von Eliten bleiben wird.
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