Ein Nachruf auf das virtuelle Jahr 2017. Teil I: Kirche und Staat
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Traum ging in Erfüllung. Die Menschen in Deutschland haben im Jahr 2017 endlich ihren Verstand benutzt und sind mutig geworden. Es hatte ein Ende mit dem Resignieren vor vermeintlichen Sachzwängen.
Die zunehmende Komplexität der Vorgänge in allen gesellschaftlichen Bereichen hatte dazu geführt, diese Vielschichtigkeit zu reduzieren und Simplifizierung statt Aufklärung zu betreiben. Statt sich mit der Vielfalt der Sachverhalte und ihrem Neben- sowie Gegeneinander auseinanderzusetzen, war siebzig Jahre lang immer nur der kleinste gemeinsame Nenner proklamiert worden. Verständlicherweise von denen, die an der Aufrechterhaltung der herrschenden ungerechten Verhältnisse ein Interesse hatten. Doch was haben Arm und Reich sowie Herrschaft und Ohnmacht gemeinsam? Nichts anderes als den seit Jahrtausenden gezüchteten Instinkt, dass einer des anderen Feind sei, Erfolg grundsätzlich zu Lasten Unterlegener gehen müsse und jeder selbst die Verantwortung dafür trage, falls er arm und unbedeutend geblieben war.
Da jede Kritik an der Gesellschaft (zum Zweck ihrer Veränderung) mit einer Kritik an der Religion einsetzen muss, wie Karl Marx es forderte, wurde im 500. Jubiläumsjahr der Reformation die selten wiederkehrende Gelegenheit ergriffen, Luther und das übrige unbotmäßige Bodenpersonal Gottes in den vorläufigen, aber nicht mehr widerrufbaren Ruhestand zu versetzen.
Dazu war es notwendig gewesen, die Bischöfe bzw. Kirchenpräsidenten, Oberkirchenräte, Kirchenräte und Referenten, die in den evangelischen Landeskirchen und im Kirchenamt der EKD (Hannover) eine um ihrer selbst willen kreisende Verwaltung installiert hatten, in die Gemeinden zu versetzen. Im Gegenzug hatten Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich an der Basis redlich um das Reich Gottes auf Erden bemühten, vorübergehend kirchenleitende Aufgaben übernommen. Zumindest solange, bis das Priestertum aller Gläubigen durchgängig umgesetzt sein würde und völlig neue und flache Hierarchien entstehen konnten.
Margot Käßmann, die bisherige Funktionspastorin für nicht vorhandene Probleme im Protestantismus, hatte die Aufgabe erhalten, als Sonderbotschafterin der neuen Reformation durch die Gemeinden zu reisen und die Gläubigen zur Neubesinnung aufzurufen. Dabei erwies sie sich als äußerst erfolgreich und publizierte sogar ein neues Buch, den »Katechismus 2017, Handbuch für protestantische Agitation«.
Bereits zu Ostern kam es zum Beschluss der Synoden, sämtliche in besten Innenstadtlagen befindlichen Kirchen und Liegenschaften zu Mietshäusern umzubauen, um Wohnungsnot und Gentrifizierung wirkungsvoll entgegenzutreten. Kirchliche Verwaltungen, bereits auf die Funktionen einer sozialen Infrastruktur komprimiert, zogen in die Kleinstädte und aufs Land und erfüllen nun auf diese Weise eine alt- wie neutestamentliche Verheißung: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg.
Die nächste Station auf dieser Straße des Fortschritts war das Manifest »Zurück zu den Wurzeln«, das zu Pfingsten in den Gemeinden verlesen wurde. Gleichzeitig wurden neue Jahreslosungen ausgegeben. Für 2017 lautete sie »Glaubenskampf ist Klassenkampf«, für 2018 »Die Entheiligung der Familie, des Privateigentums und des Staats«.
Zum Johannistag am 24. Juni kündigte die Diakonie ihre Mitarbeit im Zweiklassen-Gesundheitssystem auf und praktiziert seither in ihren Kliniken und Sozialstationen die Einheitsversorgung für alle Versicherten auf höchstem medizinischen und pflegerischen Niveau. Parallel dazu verabschiedete sie sich von den Tafeln für Bedürftige und versorgt nunmehr Notleidende in deren Wohnungen. Für Wohnsitzlose stellt sie Kleinwohnungen kostenlos zur Verfügung. Um diesen Menschen eine allmähliche Wiederteilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, finden Schulungen statt, die zu einem neuen gesellschaftlichen Bewusstsein und beruflicher Rehabilitation verhelfen sollen.
An der Kirchensteuer wurde festgehalten, der Beitragssatz aber auf die Hälfte des bisherigen reduziert. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die neue soziale Aufgabe der Kirche erhebliche finanzielle Mittel erfordere.
Nach einer ersten Austrittswelle im Frühsommer traten von September bis zum Jahresende 2017 mehr Leute in die Kirche ein, als während der ersten acht Monate des Jahres ausgetreten waren. Am 31. Oktober, dem traditionellen Reformationstag, bildeten sich auf den Ebenen von Gemeinden, Landeskirchen und der EKD vorläufige kirchenleitende Räte aus Ehren- und Hauptamtlichen für die Verwaltung der jeweiligen Einheiten. Für das Jahr 2018 sind die Fixierung theologischer Leitsätze vorgesehen, die sich an biblischen Zeugnissen, der historisch-kritischen Bibelforschung, wegweisenden theologischen Schriften wie denen von Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer und Herbert Braun sowie solchen von Philosophen wie Ernst Bloch, Wilhelm Weischedel, Ludwig Feuerbach und Karl Marx orientieren sollen. Auf Martin Luther als Ahnherrn der evangelischen Kirche soll völlig verzichtet werden; lediglich seine Bibelübersetzung wird weiterhin gewürdigt und in Gebrauch sein. Künftig sollen sich die evangelischen Landeskirchen als »Reformierte Kirche – Protestanten – in (Name des Bundeslands)« bezeichnen.
Doch auch in der Politik bahnten sich 2017 grundlegende Veränderungen an. Am 28. Februar traten die sozialdemokratischen Minister der von Angela Merkel geführten »Großen Koalition« zurück, was zu einer Minderheitsregierung unter Kanzlerin Merkel führte. Parallel dazu verzichteten Sigmar Gabriel und der gesamte SPD-Parteivorstand auf ihre Ämter. Auf dem Sonderparteitag am 17. und 18. April in Dortmund wurde Ralf Stegner zum Vorsitzenden gewählt, als seine Stellvertreter Heiko Maas und Katarina Barley. Die »Agenda 2010« wurde als Anbiederung an den Neoliberalismus verworfen. Gegen Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Peer Steinbrück, Frank Walter Steinmeier, Andrea Nahles und weitere 25 aktive bzw. ehemalige Vorstands- und Präsidiumsmitglieder wurden Parteiausschlussverfahren beantragt.
Das Programm für die Bundestagswahl am 24. September beinhaltete u.a. die Forderung nach einem im Grundgesetz zu verankernden Recht auf eine bezahlbare Wohnung, das Verbot gewerbsmäßiger Wohnraumvermittlung sowie gewerbsmäßigem Wohnraumverkauf, die Festschreibung der gesetzlichen Rente auf 50 Prozent der durchschnittlichen Nettobezüge aus den letzten zehn Erwerbsjahren, die Einführung einer Bürgerversicherung einschließlich des Verbots privater Krankenversicherungen, die Überführung marktbeherrschender Unternehmen in Gemeineigentum sowie die Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel, die Bundesrepublik als säkularen Staat zu definieren. Ökologische und zukunftsweisende Produkte sollten künftig einem reduzierten Mehrwertsteuersatz unterliegen, ressourcenverschwendende und klimagefährdende hingegen mindestens dem Dreifachen des Regelsatzes. Im Zuge eines 10-Jahresplans sollte der Straßenverkehr zu 50 Prozent auf die Schiene sowie auf energiesparende und klimaneutrale Fahrzeuge mit Brennstoffzellen-Antrieb verlagert werden.
Die SPD sprach sich auch für ein durchlässiges Bildungssystem aus, das der Allgemeinbildung verpflichtet sein müsse und nicht den kurzfristigen Interessen der Wirtschaft. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sollte ein geschützter Kommunikationsraum für alle Bürger im Internet an die Seite gestellt werden; kommerziellen Netzwerken wie Facebook hingegen wurde wegen permanenter Verstöße gegen Datenschutzgesetze ein Verbot angekündigt.
Trotz Skepsis bei den üblichen Bedenkenträgern errang die SPD mit 45 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg bei der Bundestagswahl. Die Linke musste sich mit 9 Prozent zufriedengeben, sprach sich aber noch am Wahlabend für eine Koalition mit den Sozialdemokraten aus, die ihrerseits für dieses Bündnis plädierten. Am Tag nach der Wahl spalteten sich die Grünen, die lediglich auf 7,5 Prozent kamen. Die künftigen Abgeordneten des linken Flügels unter Anton Hofreiter gaben bekannt, sich der Koalitionsfraktion von SPD und Linken anschließen zu wollen. Die neofaschistische AfD verfehlt mit 3 Prozent die parlamentarische Hürde, ebenso die FDP. CDU und CSU erreichten insgesamt 29 Prozent.
Bereits am 1. November wurde die neue Bundesregierung unter Kanzler Ralf Stegner (SPD) und Vizekanzler Dietmar Bartsch (Die Linke) vereidigt. Bei seinem Antrittsbesuch in Paris vereinbarte Ralf Stegner mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass sie sich gemeinsam bei den Gremien der EU dafür einsetzen wollen, Mitgliedsländer mit instabilen Rechtsstrukturen wie Polen, Ungarn oder Tschechien bis zur Wiedererrichtung demokratischer Verhältnisse zu suspendieren. Dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, wurde am selben Tag die Entlassung angekündigt, da er als Repräsentant des international marodierenden Finanzkapitals nicht länger tragbar sei. Gast dieses ersten Treffens der deutschen und französischen Spitzenpolitiker war US-Präsident Bernie Sanders, der ein antiimperialistisches und antikapitalistisches Jahrhundert ausrief.
Foto:
Berliner Reichstagsgebäude nach der Bundestagswahl 2017
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Info:
Teil II dieses satirischen Rückblicks widmet sich den Entwicklungen in den USA und in der arabischen Welt