kpm Das Lutherhaus an der Altenderner Strase in DortmundProfile der 68er. Teil 3/4

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Karl-Friedrich Denter, Jahrgang 1949, war nicht nur biologisch der Sohn seines Vaters. Auch theologisch und politisch stand er ihm sehr nahe.

So war er Mitglied der SPD und der Religiösen Sozialisten geworden und gehörte aus Verbundenheit mit den Bergleuten des Ortes ebenfalls der IG Bergbau und Energie an. Seine Orientierung an der weltlichen Frömmigkeit Dietrich Bonhoeffers („Leben als ob es Gott nicht gibt“) und der Theologie Paul Tillichs („Sein und Sinn“) hatte ihm während des Studiums in Marburg und Tübingen manche Konflikte mit den Ordinarien beschert. Und bald war allen, die ihn kennenlernten, klar, dass seine beiden Vornamen keine Verbeugung vor Groß-oder Urgroßvätern waren, sondern aus den politischen Überzeugungen des Vaters herrührten: nämlich von Karl Marx und Friedrich Engels. Diese Vorbestimmung war von Karl-Friedrich voll akzeptiert worden, seit der Obersekunda wuchs dieses Einverständnis mit jedem Jahr, um das er älter wurde.

„Wenn du ewig leben willst, musst du um jeden Preis verhindern, dass du stirbst.“ Pastor Rolf Denter provozierte seine Gemeinde gern mit solchen und ähnlichen Sprüchen. Und er genoss es, wenn er dadurch insbesondere konservative Christen an empfindlicher Stelle traf.

Karl-Friedrich, der aufmerksam die vielen Predigtnotizen seines Vaters durchblätterte und sich teilweise darin festlas, fühlte sich bei der Lektüre zurückversetzt in zwar glückliche, aber meist aufregende Kinder- und Jugendjahre. Dann fiel sein Blick auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte seinen Konfirmandenjahrgang 1964, wie er im Luthersaal nach der Einsegnung für den Fotografen posierte; elf Jahre lag das zurück.

Auf dieser Konfirmationsfeier, die traditionell für alle Konfirmanden und ihre Familien im Gemeindehaus stattfand, waren sein Vater und der Vorsitzende des Presbyteriums, Werner Hangebrauck (der Vater des heutigen Gewerkschaftsvorsitzenden), heftig aneinandergeraten.

„Werner, halt' mich bitte nicht für doof. Ich bin kein Komiker, der zu Taufen, Konfirmationen und Eheschließungen fromme Sprüche beisteuert. Damit der Appetit kommt und die Bierchen und die Schnittchen besser runtergehen. Und ich bin auch kein Zeremonienmeister für Bestattungen. Selbst wenn ich mittlerweile mehr Leute beerdige als taufe. Ich predige das Evangelium. In erster Linie jenen, die hoffnungslos geworden sind. Die unsere Gesellschaft ausgespuckt hat und die sie den Almosen der Reichen überantwortet.“

„Rolf, das mit dem Evangelium kannst du halten, wie du willst“, widersprach Werner Hangebrauck. Obwohl ihm das nach fünf Gläsern Bier und einer selben Anzahl an Dop­pelwacholdern sichtlich schwerfiel, „aber unsere Kirche musst du dabei raushalten, sie muss sauber bleiben. Und die Kirche ist auch keine Arbeitsgemeinschaft der SPD, auch keine der Gewerkschaft. Das musst du auseinanderhalten. Das sage ich dir ausdrücklich als Genosse und als Gewerkschaftskollege.“

Karl-Friedrich erinnerte sich noch gut daran, dass sein Vater die Konfirmationspredigt genutzt hatte, um gegen die drohende Schließung der örtlichen Kohlezeche zu protes­tieren und den Sinn des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Frage zu stellen. Einen Monat vorher hatte er sich in einen Demonstrationszug durch den Stadtteil eingereiht. Doch während alle anderen Teilnehmer schwarze Fahnen trugen, führte er eine rote mit und hielt sie unübersehbar hoch. Das hatte fast zu einem Eklat geführt; denn Bergassessor Schulze-Althoff hatte die Ordner angewiesen, Rolf Denter abzudrängen und vom Zug zu isolieren. Doch damals verfügte der Pastor noch über eine zwar kleine, aber entschlossene Anhängerschaft, die komplett mitmarschierte. Sie nahm ihn in ihre Mitte, überholte schnellen Schritts den Zug und setzte sich an dessen Spitze. Dann intonierte Denter Martin Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen...“ und fast alle sangen mit.

Diese Szene hatte Eingang gefunden in die Berichterstattung der Presse; die der SPD nahestehende „Westfälische Rundschau“ titelte: „Der rote Pastor kämpft für das schwarze Gold Dortmunds.“ Und das WDR-Fernsehmagazin „Hier und heute“ schmückte seine Reportage mit der ausführlichen Wiedergabe des alten evangelischen Kirchenlieds, gesungen von Bergleuten, die um ihre Zukunft fürchteten.

Nach diesem Ereignis hatten sich die ohnehin bestehenden Fronten in der Kirchengemeinde noch mehr verhärtet.

Karl-Friedrichs Gedanken schweiften noch einmal ab zur Konfirmationsfeier.

Nachdem der Disput zwischen seinem Vater und Werner Hangebrauck an Lautstärke und Aggressivität zugenommen hatte, nahm Heinrich Schulze-Althoff, der Bergwerksdirektor, an ihrem Tisch Platz und kam ohne Umschweife zur Sache.

„Mein lieber Denter, ich teile nicht deine Ansichten. Weder deine theologischen noch deine politischen. Aber ich habe eine Schwäche für Überzeugungstäter. Und das ist der Grund, warum du in dieser Gemeinde noch arbeiten darfst. Doch alles hat Grenzen und die will ich dir noch einmal ins Gedächtnis rufen.“
Und dann mit einem strengen Blick zu Werner Hangebrauck: „Werner, lass‘ uns mal allein. Genehmige dir am Tresen noch ein Pils und meinetwegen auch noch einen Klaren.“

Rolf Denter fühlte, so erzählte er später, wie unbändiger Zorn in ihm aufstieg; er hatte das Gefühl, Schulze-Althoff sauge ihm die Seele aus dem Leib und für einige Sekunden war er nicht in der Lage, etwas zu sagen. Doch rasch hatte er sich wieder in unter Kontrolle.
„Heinrich, die Grenzen meiner Arbeit sind im Ordinationsgelübde festgelegt. Und das bezieht sich auf die Bibel und die Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche. Beide erlauben mir jene "Freiheit eines Christenmenschen", von der Luther immer wieder schrieb. Da lasse ich mir auch vom Presbyterium nicht hineinreden, schon gar nicht von deinem Lakaien Hangebrauck. Es steht dir frei, den Superintendenten, sämtliche Oberkirchenräte und selbst den Präses zu konsultieren. Vermutlich hast du das längst getan. Ich bin gern bereit, mit meinen mir vorgesetzten Amtsbrüdern über die Grund­sätze evangelischer Freiheit zu diskutieren.“

Schulze-Althoff schien überrascht von der Heftigkeit dieser Gegenrede.
Doch Rolf Denter war noch nicht am Ende. „Und noch eines, Genosse Heinrich: Hier im Ruhrgebiet geht es längst nicht mehr nur um den Fortbestand von zwei, drei oder mehr Zechen. Die Industriegesellschaft selbst, von der wir alle bislang profitiert haben, steht am Scheideweg. Die Ausbeutung der Erde, die Belastung der Luft, die Vergiftung der Flüsse, die Produktion von Dingen, die kein Mensch braucht, all das muss auf den Prüfstand.“
Der Bergwerksdirektor erhob sich ohne Antwort und ohne sich zu verabschieden. Rolf Denter schien es so, als sei der bis dahin heimlich geführte Krieg nun in einen offenen übergegangen.

Karl-Friedrich Denter erinnerte sich, dass die Begleitumstände dieser Konfirmation den sich schon andeutenden inneren Bruch seines Vaters mit der Amtskirche beschleunigt hatten. Seine Kritik an den Zuständen in Kirche und Gesellschaft wurde zunehmend von zynischen Untertönen bestimmt. Er selbst verbitterte von Monat zu Monat, weil ihm offensichtlich der Glaube an Veränderungen allmählich verlorenging. Seine Predigten waren fast ausnahmslos nur noch von einem Thema bestimmt: dem der Selbstge­rechtigkeit der Christen. Im Sinne Bonhoeffers verwarf er die billige Gnade, welche die Menschen mit sich selbst haben, und forderte die teure Gnade, die allein in die Nachfolge Christi führt, weil sie das Kreuz annimmt.
Regelmäßig saß er ganze Nächte in seinem Arbeitszimmer und schrieb flammende Predigten, mit denen er die Gemeinde zur Umkehr aufrufen wollte. Meist verwarf er dann die Texte wenige Stunden vor den Gottesdiensten wieder. Und versuchte, die Predigt – trotz der Bezüge zu Bonhoeffer, Tillich oder Gollwitzer - auf magere Appelle an das sittliche Verantwortungsgefühl der Menschen zu beschränken. Genauso, wie es seine Amtsbrüder landauf, landab auch taten.

Frust über die eigene Unzulänglichkeit und missionarischer Eifer lösten sich wechsel­seitig ab. In dieser von ständigen Widersprüchen geprägten und für ihn völlig unbefriedigenden Lebensphase entdeckte er den Alkohol als vermeintlichen Retter. Anfangs verschaffte er ihm eine Atempause. Doch bald riss er ihn in einen Abgrund. Und keine der vielen helfenden Hände vermochten ihn wieder nach oben zu ziehen. Rolf Denter war krank und wurde immer kränker.

Bezeichnend für diese Entwicklung war die Einsegnung der Konfirmanden am 21. April 1967 gewesen, die er im Alkoholrausch vorgenommen hatte. Zwei Tage zuvor war Konrad Adenauer gestorben, für seinen Vater der politische Feind schlechthin. Rheinisch-katholisch, also mehr Antichrist als Christ, ein typischer Vertreter des reaktionären Kölner Klüngels und dem Kapitalismus und den US-amerikanischen Weltausbeutern aus Überzeugung zugetan. Wenn so einer sich endlich, viel zu spät, vor Gottes Thron zu verantworten hatte, musste auf Erden der Branntwein fließen. Und nicht zu knapp.

Seine Kirche, mit der ihn nur noch eine leidenschaftliche Hassliebe verband, zeigte sich versöhnungsbereit, wenn es um gesundheitliche Rehabilitation ging, aber weltfremd in allen Dingen, welche die Berufsausübung betrafen. Nach der ersten Entziehungskur sollte er nur noch als Religionslehrer tätig sein, was kurz darauf eine weitere Kur notwendig machte. So kehrte er nach acht Monaten in sein angestammtes Pfarramt zurück und versah seinen Dienst, als säße er in einem Elfenbeinturm, dem Himmel eindeutig näher als der Gemeinde. Er kultivierte seinen Hass gegen das Böse, das konkrete Namen hatte: Assessor Schulze-Althoff, Werner und Karl Hangebrauck, Gisbert Wöhrmann, Superintendent Walter Heusinger, Oberkirchenrat Malte Zander usw. usw.

Foto:
Das Luther-Haus an der Altenderner Straße in Dortmund
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