Mutmaßungen über den derzeitigen Weg der SPD
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der frühere Chefredakteur des Hessischen Rundfunks, Wilhelm von Sternburg, hat angesichts der wegen des GroKo-Streits zerrissenen SPD in der „Frankfurter Rundschau“ von einer „Tradition der Selbstzerstörung“ gewarnt und indirekt für eine Neuauflage der schwarz-roten Koalition plädiert.
Doch wer, wie Wilhelm von Sternburg, in Geschichtsbüchern blättert und darin über die diversen programmatischen Streitigkeiten in der SPD liest, sollte wissen, aus welcher Perspektive diese verfasst wurden. Wem lediglich das Große und Ganze wichtig ist, wird für die Sorgen des Alltags kaum erreichbar sein. Die politische Entwicklung in Europa zeigt aber, dass die Stimmen derjenigen, die sich als Verlierer technischer und wirtschaftlicher Veränderungen fühlen, Kräfte nach oben spülen, welche die klassischen Abgrenzungen zwischen den Parteien nivellieren und zu indifferenten Bündnissen führen.
Das Wahlverhalten der kleinen und mittleren Angestellten am Ende der Weimarer Republik zu Gunsten der NSDAP haben Siegfried Kracauer („Die Angestellten“, erschienen 1930) und Erich Fromm („Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“, empirische Untersuchung 1929/30) ausführlich dargestellt; der Journalist Wilhelm von Sternburg sollte das eigentlich wissen. Auch in der Bundesrepublik müsste derzeit nicht um eine neue Regierung gerungen werden, wenn die rechtsradikale und einen Ständestaat proklamierende AfD nicht die notwendigen Bewegungsmöglichkeiten drastisch einengte. Diese Gruppierung hat Stimmen aus fast allen anderen politischen Lagern aufgesogen. Darunter leidet auch die SPD, die sich über Jahrzehnte hinweg als „Anwalt der kleinen Leute“ bezeichnete, aber ihre diesbezüglichen Versprechen nur allzu selten einhielt.
Und auch wenn Wilhelm von Sternburg Forderungen wie die nach einer Bürgerversicherung oder nach einer Steuerreform zweit- oder drittrangig erscheinen, so zählen diese doch exakt zu jenen nicht erfüllten Erwartungen eines Großteils der traditionellen SPD-Wähler. Da nahezu 90 Prozent der Bevölkerung Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sind und regelmäßig die Auswirkungen eines Zwei-Klassen-Gesundheitssystems erleiden müssen, gehörte eine qualitative Veränderung zur Nagelprobe einer wirklich sozialdemokratischen Politik. Ähnliches gilt für die vergleichsweise hohe Besteuerung kleiner Einkommen gegenüber der von Großverdienern und Kapitalunternehmen.
Hätte die SPD nicht ihre Wähler regelmäßig enttäuscht, wäre sie vermutlich auch in Hessen, einer ihrer traditionellen Hochburgen, eine einflussreiche Partei geblieben. Dann zählte auch der Hessische Rundfunk heute nicht zu den Schwarz-Sendern der Republik. Als ehemaliger Chefredakteur des HR sollte Wilhelm von Sternburg das eigentlich wissen. Und die Sozialdemokratie besäße in den Printmedien ein erheblich besseres Forum für ihre Positionen, wenn sie nicht fahrlässig und ohne kulturelles Bewusstsein die FRANKFURTER RUNDSCHAU und die WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU in die wirtschaftliche Katastrophe getrieben hätte. Ähnliches gilt auch für den Deutschen Gewerkschaftsbund, dem seine angesehene Zeitung „Welt der Arbeit“ 1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung und trotz der sich abzeichnenden sozialen Konflikte im Osten, gleichgültig geworden war.
Man kann es bedauern, dass Karl Marx und Wilhelm Liebknecht seinerzeit nicht auf einen gemeinsamen Nenner kamen. Entscheidender für die Bedeutung der SPD sind aber die Karrieristen ihres rechten Flügels, die beispielsweise eine Ministerpräsidentin Andrea Ypsilanti oder eine weitere Amtszeit von Heide Simonis verhindert haben. Und die durch eine Neuauflage der GroKo die Zukunft ihrer Partei endgültig verspielen.
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Der Beitrag von Wilhelm von Sternburg erschien am 20.01.2018 in der FR unter dem Titel „Tradition der Selbstzerstörung“.