kpm Der Arbeiter und Soldatenrat von GubenEine Partei, die sich selbst verloren hat

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nur noch 18 Prozent der Wahlberechtigten würden derzeit die SPD wählen. Das ergab eine repräsentative Umfrage der ARD („Deutschlandtrend“). Bei einer zeitgleich durchgeführten Befragung des ZDF („Politbarometer“) waren es 19 Prozent. Das ergibt einen Verlust von 1,5 bis 2,5 Prozent seit der letzten Bundestagswahl, als man bereits 5,2 Prozent Verlust gegenüber der Wahl von 2013 verzeichnen musste.

Die Sozialdemokraten befinden sich im ungebremsten Fall. Und Rettung scheint nicht in Aussicht. Denn auf der Kommandobrücke stehen seit Jahren dieselben Kapitäne und Offiziere, die weder den Kompass noch das Steuer beherrschen.

Die Dilettanten unter den Ursachenforschern führen diese Entwicklung auf den Mangel an Arbeitern zurück. Der SPD ginge ihre traditionelle Anhängerschaft verloren. Folglich müsste sich die Partei konsequent zur Mitte bewegen, dort und nirgendwo anders befände sich das Volk.

Diese allzu simplen Analysen müssen hinterfragt werden.

Der Begriff „Arbeiter“ führt, wenn er ohne Erläuterung gebraucht wird, zu falschen Assoziationen und Einschätzungen. Etwa zu der Aussage, dass es den (Industrie) – Arbeiter, der das 19. und weite Teile des 20. Jahrhunderts prägte, gar nicht mehr gäbe. Folglich müssten sich traditionelle Arbeiterparteien wie Sozialdemokraten und Sozialisten eine neue Klientel suchen.

Die SPD, die es besser wissen sollte, weil sie aus zwei marxistischen Parteien hervorgegangen ist, vermutet ihr Wählerpotential nach eigener Aussage vor allem in der Mitte, dort, wo alle Klassengegensätze und/oder sozialen Unterschiede sich mehr oder weniger aufzuheben scheinen.

Unter mathematisch-geometrischen Aspekten ist jedoch die Mitte eines definierten Raums so klein, dass sie faktisch nicht aufnahmefähig ist; sie ist nur ein Punkt. Es gibt lediglich Räume, die näher an der Mitte liegen. Der Abstand zur Mitte, die man allenfalls als einen durch Lohnarbeit erreichbaren maximalen Wohlstand bezeichnen könnte, ließe sich dann im Sinn sozialer Klassen definieren.

Karl Marx verwendet den Begriff Arbeiter durchgehend in der Bedeutung von Lohnarbeiter (der dadurch gekennzeichnet ist, dass er kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzt), und differenziert zwischen einfacher und qualifizierter Lohnarbeit sowie parallel zwischen Hand- und Maschinenarbeit; darüber hinaus auch zwischen häufig und regelmäßig beschäftigten Arbeitern. Entsprechend den Qualifikationen und dem Umfang der Beschäftigung fallen die Löhne aus. Vielfach reichten diese lediglich zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und gar nicht so selten ist selbst das nicht möglich.

Dem Arbeiter (als Sammelbegriff) stellt Marx die Unternehmer (Eigentümer an den Produktionsmitteln) gegenüber, die er in Privatkapitalisten und Aktiengesellschaften trennt. Auch die innere Struktur der Betriebe (Stichwort Arbeitsbedingungen) kommt bei ihm zur Sprache. Er stellt zudem fest, dass das Lohnniveau abhängig ist von der Größe der Unternehmen sowie von deren innerer Organisation (Technisierung, Rationalisierung). Während der Lohn in Kleinbetrieben oft kaum für das Existenzminimum reicht, lässt sich in Großbetrieben, wo sich die technische Revolution durchgesetzt hat, ein sehr bescheidener Wohlstand nach längerer Beschäftigungszeit erzielen.

All das lässt sich nachlesen in einem „Fragebogen für Arbeiter“, den Marx im April 1880 in London verfasste. Dieser diente ihm zur Überprüfung seiner theoretischen Annahmen und er bestätigte sie im Wesentlichen. In „Karl Marx / Friedrich Engels: Werke“ ist das erwähnte Dokument in Band 19 enthalten. Und es zeigt: Bereits damals war die Arbeitswelt hoch komplex und mit der heutigen von den Grundstrukturen her durchaus vergleichbar.

Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich innerhalb der Arbeiterschaft Hierarchien. Die Besserentlohnten fühlten sich den Brotherren nahe und verwarfen ihr bisheriges Klassenbewusstsein. Am unteren Ende der Leiter spielte sich sogar ein interner Klassenkampf ab. Jene, die auf der vorletzten Stufe standen, blickten auf die ganz Untenstehenden verächtlich herab und fürchteten sich gleichzeitig vor dem Abstieg ins Elend. Das Bewusstsein für die dringend notwendige Solidarität der Werktätigen untereinander wies bereits Risse auf. Diese übertrugen sich auf die wichtigste Interessenvertretung der Arbeiterschaft, nämlich die SPD. Aus vermeintlicher Verantwortung für das Vaterland, dessen Machtintrigen sie nicht durchschaute, unterstützte die Partei zähneknirschend die imperialen Gelüste von Monarchie und Großindustrie. Bereits während des Ersten Weltkriegs führte das zur Spaltung der Sozialdemokratie in SPD und USPD. Letztere war nach dem Krieg die Keimzelle der KPD.

Bei kritischer Analyse kann man durchaus zu der Überzeugung gelangen, dass sich an der tiefen Zerstrittenheit der Arbeiterparteien bis heute nichts geändert hat. Die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl könnten sogar Anlass sein zu der Vermutung, dass der SPD die Arbeiter (= Arbeitnehmerschaft) verloren gegangen sind. Bei ganz genauer Betrachtung ist jedoch auch die umgekehrte Folgerung schlüssig: Die SPD hat sich selbst verloren.

Statt trotz der unleugbaren sozialen Emanzipation ihrer Mitglieder, Wähler und potenziellen Unterstützer den sich dennoch verschärfenden Grundkonflikt zwischen Arbeit und Kapital vor Augen zu führen und entsprechende Programme zu formulieren, betätigt sie sich als Reparaturbetrieb des Kapitalismus.

Der durchschnittliche Arbeiter mag im Verhältnis besser verdienen als sein Kollege vor einhundert und mehr Jahren. Doch dieser Zugewinn ist nicht auf die Barmherzigkeit der Kapitalseite zurückzuführen. Vielmehr hat letztere in ihm auch den Konsumenten entdeckt, für den und dessen Nachfrage zu produzieren extrem lukrativ sein kann. Auch auf die einkalkulierte Gefahr hin, dass immer mehr dieser Güter zu einer Verschwendungswirtschaft führen und dadurch eine ökologische Katastrophe vom Zaun brechen könnte.

Der Arbeiter ist nach wie vor nicht Eigentümer der Produktionsmittel und sein Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen ist denkbar gering. Berufliche Qualifikation schützt ihn nicht davor, zur Verschiebemasse von Unternehmensstrategien zu werden. Wenn ein Weltunternehmen wie Siemens Produktionsbereiche und -standorte schließt, bleibt der Lohnabhängige auf der Strecke. Und es lässt sich bis heute nicht einschätzen, ob die Manipulation an Dieselmotoren, wie sie von Volkswagen und anderen betrieben wurde, nicht doch noch massive Arbeitsplatzverluste nach sich ziehen wird. Auch die Digitalisierung der Arbeitsprozesse könnte bereits in naher Zukunft das soziale Gefüge in wichtigen Bereichen auseinanderbrechen lassen. Der technische Fortschritt, der dann wünschenswert ist, wenn er dem Menschen dient, bedarf der Regulierung. Man darf ihn nicht der Wirtschaft überlassen.

Vor zwanzig Jahre, als die Arbeitswelt noch ohne Schreckensbilder wie Jobcenter, Hartz IV, Scheinselbstständigkeit und Leiharbeit auskam, genoss die SPD noch 40 Prozent Zustimmung, heute ist es weniger als die Hälfte. Als Martin Schulz zum Auftakt seiner Kandidatur als Kanzlerkandidat von sozialer Gerechtigkeit sprach, die es wieder zu erlangen gelte, stiegen die Umfragewerte von zuvor 22 Prozent auf über 30. Einen deutlicheren Beweis für die Begehrlichkeiten in der Bevölkerung gibt es nicht (hier darf man die 9 bis 10 Prozent für die Linke getrost hinzuzählen). Doch die starken Worte wurden nicht mit klaren Forderungen gefüllt. Das führte zum Absturz. Und der hält offensichtlich an – trotz oder wegen GroKo.

Diese Partei hat ihre Anhänger und Wähler verloren, aber nicht, weil es diese nicht mehr in der nötigen Anzahl gibt, sondern weil die SPD sich nicht mehr als deren Interessenswahrnehmung definiert.

Foto:
Arbeiter- und Soldatenrat von Guben/Neiße 1918
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