Was der Koalitionsvertrag für die SPD bedeuten könnte
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nach der Lektüre von 179 Seiten eines Machwerks, das sich Koalitionsvertrag nennt, ist mir eindrücklich bewusstgeworden, dass wir nicht mehr jene Nation sind, die sich einmal für das Land der Dichter und Denker hielt. Soviel Unfähigkeit zum logischen Denken, soviel Spracharmut, so viele schlecht verbrämten Manipulationsversuche.
Man merkt es dem Koalitionsvertrag an, dass er aus Bruchstücken zusammengesetzt ist, geliefert von drei Parteien mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen. So heißt es im zweiten Absatz der Präambel: „Wir wollen eine neue Dynamik für Deutschland [...]. Unser Ziel ist ein nachhaltiges und inklusives Wachstum für Deutschland“.
Keine Rede ist von den Grundwidersprüchen des neoliberal geprägten Kapitalismus, der die Gesellschaft längst in zwei, möglicherweise gar drei Teile spaltet – und dies tendenziell in allen Ländern der Europäischen Union. Diese Disparatheit zwischen dem vom Grundgesetz geforderten Humanismus (Würde des Menschen, Sozialbindung des Eigentums etc.) und der immer radikaleren und rücksichtsloseren Profitwirtschaft lässt sich sehr konkret benennen:
Denn weder die Wohnung noch das Gesundheitssystem, weder Energie noch Klima und Umwelt, weder Ernährung noch Verkehr, weder eine breite Bildung noch die Digitalisierung des Alltags dürfen länger kommerziellen Interessen unterworfen sein. Andernfalls würde der selbstbestimmte Bürger zum fremdbestimmten Konsumsklaven werden. Exakt hier und nirgendwo anders hätte eine sozialdemokratische Politik, die für gerechtere Lebensverhältnisse eintritt, ansetzen müssen.
Dass die SPD unter Martin Schulz diese von ihr selbst formulierten Schlagworte nicht mit Inhalten füllte, dürfte wesentlich zum katastrophalen Wahlergebnis am 24. September 2017 beigetragen haben. Denn anfangs war diese Niederlage keinesfalls vorhersehbar; die Umfragewerte stiegen nach Schulz‘ Nominierung zum Kanzlerkandidaten im März und April 2017 auf 31 Prozent, im März lagen sie gleichauf mit denen für CDU/CSU. Zumindest theoretisch hätte es damals für eine rot-rot-grüne Koalition gereicht.
Es gehört ein größtmögliches politisches Nichtkönnen dazu, aus einer derartigen, lange Zeit nicht mehr erreichten Zustimmung wieder abzustürzen, und das tiefer als je zuvor. Der Grund dafür dürften die erneut aufgekommenen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der SPD gewesen sein, die sich u. a. im NRW-Wahlkampf zeigten. Denn kein Vorstandsmitglied war dazu bereit, sich von Schröders Agenda-Politik ohne Wenn und Aber zu distanzieren.
Das nunmehr aus einer Niederlage heraus entstandene Koalitionspapier verkennt erneut die erwähnten Ursachen für das selbstverschuldete Unglück der SPD. Diese Partei kann nur ohne Martin Schulz, Andrea Nahles, Olaf Scholz oder Thorsten Schäfer-Gümbel eine Zukunft haben. Der Eiertanz von Schulz um das Amt als Außenminister (noch bevor die Parteibasis abgestimmt hat) beweist das sehr eindeutig.
Bundespräsident Steinmeier sollte im Grundgesetz nachschlagen, um zu erfahren, was nach einer Ablehnung des Koalitionspapiers durch die SPD-Mitglieder seine Aufgabe ist. Nämlich die Vorsitzende der größten Fraktion, Angela Merkel, zur Kanzlerin zu ernennen und sie dem Bundestag zur Wahl vorzuschlagen. Aus Verantwortung für das Gemeinwesen sollten CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und meinetwegen auch die FDP für sie stimmen. Danach schlüge dann die Stunde des Parlaments, für zwei, drei oder sogar vier Jahre. Das wäre nicht nur dynamisch, sondern auch mutig und bürgernah. Und manche Talente, nicht nur in der SPD, könnten sich profilieren. Sehr zum Leidwesen der Neoliberalen und ihrer Lakaien.
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Die Möchtegern-Koalitionäre von CDU, CSU und SPD
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