p Brandenburger Tor mit turkischen StaatssymbolenEine Abwägung zwischen Vorhandenem und Wünschenswertem

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Gehört der Islam zu Deutschland? Ja, falls Deutschland die Summe aller Tatsachen ist (um in den Kategorien von Ludwig Wittgensteins „Tractatus“ zu denken).

Allerdings: Unter der Voraussetzung des bloßen Vorhandenseins gehörten auch Spießbürgertum, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, AfD, NPD und CSU oder Neoliberalismus dazu. Sie alle sind vorhanden und ich wünsche mir täglich, es würde gelingen, ihnen die Grundlagen zu entziehen. Zu letzteren zählen vor allem Dummheit und Einfalt. Deswegen: Was lediglich vorhanden ist, erscheint mir noch längst nicht als wünschenswerter Bestandteil dieses Landes.

Anders sieht es mit der deutschen Sprache aus. Mit ihr bin ich zwangsläufig aufgewachsen, doch es bedurfte vieler Jahre und der beruflichen Beschäftigung mit Philosophie, Theologie und der Literatur, bis mir ihre vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und nicht zuletzt ihre Präzision bewusst wurden. Deswegen ärgert es mich, dass mir im Alltag zunehmend eine erschreckende Spracharmut begegnet. Wenn mir ein/e Verkäufer/in die Vorteile einer Ware beschreiben soll, reichen mir Eigenschaften wie „super“, „supi“ oder „echt geil“ nicht aus. Ich hake in solchen Fällen nach und muss zur Kenntnis nehmen, dass ich vielfach nicht verstanden werde. Anscheinend haben sich Bevölkerungsgruppen auseinandergelebt. Leider gehören auch diese Widersprüche objektiv zu Deutschland. Doch soll ich sie hinnehmen? Soll ich vieles von dem vergessen, was ich gelernt habe und was mir wichtig ist?

Während meiner Kinder- und Jugendzeit habe ich (ein reformierter Protestant) aus der Zuschauerperspektive den Katholizismus kennengelernt. Und das bedeutete vorrangig seine negativsten Eigenschaften: die Verklemmtheit in sexuellen Dingen, die Forderung nach Unterordnung unter Glaubenssätze, die nicht beweisbar sind, eine gespaltene Moral bei ethischen Fragen (Abtreibung galt als Mord, die Tötung von Menschen im Krieg hingegen wurde relativiert, auch dann, als es nichts zu relativieren gab, nämlich in Hitlers Krieg) und die Parteinahme für reaktionäre politische Parteien.

Die Konfession, in die ich hineingeboren wurde, unterschied sich nicht so wesentlich von der „alleinseligmachenden Kirche“. Während der 60er und 70er Jahre bezogen sich Pfarrer in ihren Predigten noch vereinzelt auf bedeutende protestantische Denker wie Rudolf Bultmann (Entmythologisierung), Herbert Braun (existentiale Interpretation der Bibel) oder Paul Tillich (Vernunft und Offenbarung). Die Gottesdienste besuche ich längst nicht mehr. Ein Blick in den Gemeindebrief zeigt mir, dass die Evangelische Kirche einer Mainstream-Theologie huldigt, die durch ein Ausweichen vor den relevanten Fragen des Lebens und der Gesellschaft gekennzeichnet ist und die Dietrich Bonhoeffer als Selbstgerechtigkeit bezeichnete.

Seit den Kirchen die Mitglieder verloren gehen und sich in beiden Konfessionen undogmatische Gesprächskreise bilden, schöpfe ich neue Hoffnung. Doch kaum hatte dieser Aufstand der Nachdenklichen begonnen, formierte sich der islamische Fundamentalismus, der von Einwanderern aus der Türkei und Nordafrika getragen wird. Und der gebärdet sich ähnlich wie vordem orthodoxer Katholizismus und evangelikaler Biblizismus. Er schafft ähnliche Gebote und Verbote, die über Gebetshäuser und Moscheen in den öffentlichen Raum eindringen. Hierzu zählen das Verhältnis von Frau und Mann, die Akzeptanz der Klassengesellschaft und politischer Despoten (z.B. Erdogan), Drei Viertel aller Türk-Deutschen oder Deutsch-Türken sprechen sich für Erdogans Eroberungskrieg in Syrien aus. Kann und darf man sich mit 3 Millionen Anti-Demokraten abfinden? Und das nur aus dem Grund, dass sie hier leben und folglich zum deutschen Alltag gehören?

Solidarisiert man sich mit der Kritik am islamischen Fundamentalismus automatisch mit Gauland & Konsorten? Keineswegs! Denn beide Strömungen decken sich in vielen Punkten mit den gesellschaftlichen (undemokratischen) Überzeugungen des nichtreflektierenden Islams. Die Extremismusforscherin Julia Ebner hat das unlängst in einem Vergleich von Islamismus und Rechtsextremismus nachgewiesen.

Wenn bei der zumeist plakativen Erörterung der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, die Rede auf die angeblich christlich-jüdische Tradition dieses Landes kommt (wie vor wenigen Tagen in einer Rede des Bundespräsidenten), wird mir die Scheinheiligkeit dieser Debatte besonders bewusst. Denn die Christen haben den Juden jahrhundertelang elementare Menschenrechte verweigert und sich wiederholt an deren Verfolgung bis hin zur Ermordung beteiligt.

Erst mit der Aufklärung hatte in Preußen eine allmähliche Kehrtwende eingesetzt, die jedoch nicht alle Bevölkerungsschichten erfasste. Diese Epoche brachte auch Auswirkungen auf das jüdische Denken mit sich, angefangen bei Lessings Zeitgenossen Moses Mendelssohn über Hermann Cohen, Leo Baeck, Ernst Cassirer bis zu Erich Fromm (um nur einige zu nennen). Diese Denker haben die Anliegen des mittelalterlichen Gelehrten Maimonides aufgegriffen, der eine Verbindung von traditionellem jüdischem Glauben mit altgriechischer Philosophie (Logik und Naturwissenschaft) anstrebte. Diese fruchtbare jüdische Tradition stand, so lange es sie gab, immer in Gegnerschaft zum autoritären Staat und zum christlichen Dogmatismus. Jenes Reformjudentum, das in Deutschland seine Blütezeit erlebte, fand dort auch seinen Tod bzw. wurde aus diesem Land vertrieben; heute ist es fast nicht mehr vertreten. Deswegen tut eine Differenzierung not. Andernfalls landet man schnell bei abendländischen Phrasen á la Pegida.

Deswegen ist die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, eine, auf die allenfalls eine empirische Antwort möglich ist. Nämlich die, dass er vorhanden ist, was uns jedoch weder politisch noch kulturell einen Schritt weiterbringt. Denn Quantität allein bedeutet noch nicht Qualität.

Foto:
Brandenburger Tor mit Lichtprojektion türkischer Staatssymbole
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