Bildschirmfoto 2018 04 14 um 08.40.47Nächste Woche feiert der Staat Israel sein 70-jähriges Bestehen

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Viel Grund zum Feiern hat seine Bevölkerung aber nicht, sie scheint gespaltener als je zuvor.

Erreicht ein Mensch den 70. Geburtstag, macht er vielleicht kurz Einhalt im kreativen Schaffen, um sich einen Rückblick auf das Erreichte zu gönnen und, wenn er noch über den nötigen Elan verfügt, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Einen nicht zu vernachlässigenden Raum in seinen Überlegungen nehmen dabei sicher aber Gedanken ein, die sich mit der Möglichkeit oder der Opportunität befassen, was er von seinem Erarbeiteten den heranwachsenden Nachkommen hinterlassen darf oder muss.

Anders als bei einem Individuum verhält es sich, wenn das Geburtstagskind ein Staat ist, wie der Staat Israel, der nächste Woche seinen 70. Geburtstag feiert. Vergleichen wir die Situation des Staates mit jener des Menschen, kann bildlich argumentiert werden, dass der Staat nach sieben Jahrzehnten vielleicht dabei ist, sich seiner Kinderschuhe zu entledigen und sie gegen eine Teenagerkluft einzutauschen. Ein Vergleich, der vielleicht etwas hinkt. Dennoch müssen wir uns des dem menschlichen Denken eigenen Rahmens und seiner Beschränkungen auch dann bedienen, wenn wir wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte des Staates beurteilen wollen. Abgesehen davon, dass der Staat letzten Endes nichts anderes ist als die Summe aller menschlichen Einzelaktivitäten und -entscheidungen in seinem Einzugsgebiet, haben wir konkret ja kaum andere Möglichkeiten, wenn wir uns einer Sprache bedienen wollen, mit der sich die Chancen beurteilen lassen, dass der Staat die nächsten 70 Jahre besser als die ersten übersteht.


Eine bedenkliche Kluft

Eine Momentaufnahme des Staates Israel im Frühling 2018 liefert bei allen Wünschen und verständlichem Drängen nach national vorgeschriebener, vielleicht sogar spontaner Feststimmung, die viele der von den Entwicklungen des Staates direkt oder indirekt betroffenen Personen und Gruppen wohl empfinden, ein Bild, das als durchzogen bezeichnet werden kann. Durch eine kritische Linse betrachtet gelangt man hingegen zur Schlussfolgerung, dass Israels Bevölkerung und mit ihr die Juden der Welt heute so gespalten sind wie kaum je zuvor. Sogar der Grundsatz, wonach bei einer Existenzbedrohung von aussen die Reihen der Solidarität im Volk sich automatisch schliessen – seit Jahrzehnten ein ehernes Prinzip für die Garantie des Überlebens und den Antrieb des Fortschritts des Landes –, gilt für die Israeli der Gegenwart nur noch bedingt. Zu sehr streben heute die ideologischen und politischen Grundvorstellungen der einzelnen Gruppen auseinander, und anstelle des nationalen Verantwortungsbewusstseins treten immer dominierender Elemente des materialistisch begründeten Egoismus in den Vordergrund. Sie beschränken sich nicht nur auf die wirtschaftliche Ebene, sondern spielen auch bei den politisch-militärisch-gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen eine immer zentralere Rolle. Das kann gefährlich werden.


Wirbel um Netanyahu

Das aus israelischer Sicht wohl drastischste Beispiel lieferte dieser Tage die Diskussion darum, ob Regierungschef Binyamin Netanyahu­ entgegen den bisherigen Gepflogenheiten an der offiziellen Jom-Haazmaut-Feier neu eine Rede halten darf. Getreu seiner Angewohnheit, andere seine Kämpfe ausfechten zu lassen, schickte er Kulturministerin­ Miri Regev in den Ring, die im Kabinett als seine spezielle Alliierte gilt. Fast wäre es ihr auf dem Umweg über die Einladung des honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernandez tatsächlich gelungen, gegen den Willen von Knessetsprecher Yuli Edelman dem
Regierungschef zu einem weiteren Rednerpult zu verhelfen. Erst als der lateinamerikanische Präsident, der als erster ausländischer Würdenträger am Jom Haazmaut eine Kerze hätte entzünden dürfen, von der israelischen Kontroverse um seine Person Wind be­­kam und seine Teilnahme an der Zeremonie absagte, regten sich auch jene Geister, die sich dagegen wehrten, den Charakter des Unabhängigkeitstags auf dem regevschen Altar der «Ehre für Netanyahu um jeden Preis» in Rauch aufgehen zu lassen. Und der Knesset­sprecher, der nicht grundlos fürchtete, sich «seine» Feier von den spöttischen Reaktionen des Volkes kaputt machen zu lassen, fand zum Schluss noch die richtigen Worte: «Viele Bürger fühlen sich unwohl in den letzten Tagen wegen des Disputs rund um die 70-Jahr-Feier für Israel» sagte Edelman an der Einweihung des Demokratie-Pavillons, den das Demokratie-Institut zusammen mit der Tel Aviver Stadtverwaltung errichtet hatte. «Mir ist es wichtig, zu klären, dass dies weder eine persönliche Angelegenheit noch eine Ehrensache ist. Für mich ist es ein Versuch, das zu bewahren, was uns eint und definiert.»

Das Schwergewicht, das Edelman auf die Wichtigkeit der Einheit im Volk legte, kommt nicht von ungefähr. Als klar denkender und den kleinsten gemeinsamen Nenner anstrebender Mensch erkannte der Knessetsprecher gerade noch rechtzeitig die Zeichen der (Un-)Zeit, die die Kulturministerin mit Billigung des Premiers setzen wollte. Das Duo war darauf aus, auch den Jom Haazmaut, wie so vieles in den letzten Jahren, zu verpolitisieren: Anstatt es bei der traditionellen Rede des Knessetsprechers bewenden zu lassen, wollte Regev neben Netanyahu und Edelstein noch Präsident Reuven Rivlin und einen hochrangigen ausländischen Gast aufmarschieren lassen. Erst Edelmans Drohung, selber nicht an der Feier teilzunehmen und auch die Knessetwache zu Hause zu lassen, sollte das Format geändert werden, durchkreuzte letzten Endes die Pläne Regevs.


Keine Visionäre in Sicht

Netanyahu darf nun eine Kerze anzünden und ein paar Worte zur Unabhängigkeitserklärung zum Besten geben. Die Krone des Kompromis­ses besteht darin, dass Israels Premier alle zehn Jahre eine Rede halten darf. Ausdrücklich gesagt hat es keiner der am Disput Beteiligten, doch hinter vorgehaltener Hand dürfte gar mancher sich gedacht haben: Wer wird sich in zehn Jahren in politischer Hinsicht noch an Figuren wie Netanyahu oder Regev erinnern? Wenn's gut geht, wird es den Israeli bis dahin gelingen, die drohende Spaltung im Volk noch abzuwenden und sich weiteren Problemen zu widmen. Etwa dem immer unaufhaltsamer erscheinenden Abrutschen Israels in die totale internationale Isolation, was ebenso verhindert werden muss wie das grandiose militärische Kräftemessen, das Verteidigungsminister Avigdor­ Lieberman mit Blick auf Iran vorzuschweben scheint (vgl. Kasten). Keine Angst, es gäbe auf jeden Fall noch genügend Themen, an denen
Israel die Würdigkeit seiner Zugehörigkeit zur internatio­nalen Völkergemeinschaft unter Beweis stellen könnte. Beispielsweise könnte es eine humane Lösung für die afrikanischen Asylsuchenden oder auch am Gazastreifens herbeiführen. Hier geht es nicht um israelische Schuldzuweisungen an Terroristen, sondern darum, dass «der jüdische Staat» sich endlich so benimmt, wie das Adjektiv jüdisch in seiner Bezeichnung es von ihm verlangen würde.

Von der Verwirklichung solcher Visionen ist Israel bedauerlicherweise aber weiter entfernt denn je. Erstens sind in der Führung des Landes wirkliche Visionäre absolute Mangelware geworden. Zweitens aber lässt das Volk sich bewusst oder unbewusst immer ausgeprägter auf die letzten Endes selbstzerstörerische Bahn der Spaltereien und des Anspruchs auf Exklusivität der eigenen Ansichten ab­­drängen. Das ist dann nicht mehr bedauerlich,
das nähert sich immer rascher der eigentlichen Existenzbedrohung von innen her. Wird dieser Tendenz nicht unverzüglich Einhalt ge-
boten, werden schon nächstes Jahr nicht nur Leute wie der Basketballstar Omri Caspi, der Präsident von Honduras oder die Schauspielerin Mayim Bialik auf die Teilnahme an der Jom-Haazmaut-Feier und das traditionelle Entzünden der Kerzen verzichten. Will Israel das wirklich riskieren? Wohl kaum, zumindest nicht, wenn wir auf besonnene Leute wie Yuli Edelman hören: «Hier gibt es keine Gewinner oder Verlierer. Es besteht der Wunsch, diese wichtige Zeremonie zu bewahren, ist sie doch immer noch unser gemein­samer Nenner.»

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Die Pioniergeneration mit der Hoffnung zur Einheit – Vier Stunden nach dem Abzug der letzten britischen Truppen am 3. Juni 1948 erscheinen David Ben Gurion und seine Frau Paula am Quai im Hafen von...
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 13. April 2018