Antisemitismus in der Schmuddelecke von Facebook & Co
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Studie der TU Berlin „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“ erscheint mir nach Lektüre des 72 Seiten schmalen Skripts als oberflächlich und wissenschaftlich angreifbar.
Denn sie misst kommerziellen (nicht „sozialen“!) Netzwerken wie Facebook einen repräsentativen, weite Teile der Bevölkerung umfassenden, Aussage- und Stellenwert zu, den diese nicht besitzen. Parallel zu dieser Überbewertung blendet sie undemokratische, rassistische und antisemitische Zungenschläge aus, die regelmäßig sowohl in überregionalen als auch in regionalen Presseerzeugnisses auffallen. Letztere erweisen sich in den Kreisen des „anständigen Bürgertums“ als meinungsbildende, weil vermeintlich zitierfähige Publikationen.
Verwiesen sei hier auf die Studie von Horst Pöttker: „Zum demokratischen Niveau des Inhalts überregionaler westdeutscher Tageszeitungen“ aus dem Jahr 1980, welche das Erbe des NS-Journalismus im Nachkriegsdeutschland unter die Lupe nahm und in Teilbereichen eine unbewältigte Vergangenheit konstatierte, die in einer Zeit der offenen bis stillschweigenden Akzeptanz rechtsradikaler und rassistischer Gedanken erneut salonfähig zu werden scheint.
Vernachlässigt werden auch die Insiderpublikationen der Neu-Rechten (diverse Internet-Homepages, Zeitungen wie „Junge Freiheit“, Zeitschriften wie „Sezession“ oder Bücher aus dem Antaios Verlag), die mittlerweile bereits einen Gegenkultur-Status für sich beanspruchen und im Sinn einer „konservativen Revolution“ (wie Ende der 1920er Jahre) agitieren. Nadelstreifen-Antisemiten wie die einstigen „Kronjuristen“ des Dritten Reichs, Carl Schmitt und Ernst Ludwig Huber, werden dort erneut als Vorbilder hingestellt. Im Gegensatz zu diesen ist die antisemitische Hetze in Facebook so etwas wie das Wutgeheul des Lumpenproletariats bei der Suche nach Sündenböcken. Mehr als Mannschaftsdienstgrade in „freien Kameradschaften“ sind dort nicht zu rekrutieren. Die Brandstifter, welche das Feuer verwalten, sitzen hingegen woanders und melden sich regelmäßig auch in den Internetausgaben vorgeblich „renommierter“ Zeitungen und Zeitschriften zu Wort.
Wer den gesellschaftlichen Antisemitismus vorrangig an Facebook oder Twitter festmacht, dokumentiert damit lediglich seine eigenen Defizite bei der Wahrnehmung der gesamten digitalen und gedruckten Publizistik.
Aber nicht nur die Blickrichtung der Studie, auch die in den Korpusanalysen angewandte Methode ist zu kritisieren. So wird die Beschneidungsdebatte von 2012 losgelöst von juristischen und theologischen Erwägungen wiedergegeben und faktisch auf die Vorbehalte und den Hass von Dummköpfen reduziert. Eine Gegenüberstellung von berechtigten Einwänden gegen die Beschneidung (beispielsweise aus dem liberalen deutschen Judentum der Vor-Nazi-Zeit) und dem Geschrei von Volkstümlern sucht man vergeblich. Dabei wäre es doch für die Bekämpfung des Antisemitismus wichtig, mögliche Schnittstellen auszumachen und dort anzusetzen.
Ähnlich fragwürdig ist der so genannte „israelbezogene Antisemitismus“. Denn eine Kritik am Staat Israel muss möglich sein, ohne dafür als Antisemit diffamiert zu werden. Beispielsweise dann, wenn der nunmehr gesetzlich festgeschriebene „jüdische Nationalstaat“ infrage gestellt wird, der die Rechte der arabischen Einwohner auf zweitklassige Sonderrechte (beispielsweise der Sprache) beschränkt. Während Literaten wie Amos Oz und Uri Avnery oder die Friedensbewegung „Schalom Achschaw“ immer wieder gegen die Gleichsetzung von Antisemitismus und Israelkritik anrennen, nimmt ausgerechnet ein „Institut für Sprache und Kommunikation“ in Berlin keine Quellenscheidung vor. In der Kontroverse um Günter Grass‘ Israelgedicht „Was gesagt werden muss“, vertrat Avnery die Meinung, dass es antisemitisch sei, darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden dürfe.
Auch die exemplarisch herangezogene Aktion „Berlin trägt Kippa“ wird ausschließlich im antisemitischen Zerr-Spiegel der Internetauftritte von „BILD“ (via Facebook), „Morgenpost“ und „Tagesspiegel“ bewertet. Dass die Kippa auch nach jüdisch-orthodoxer Meinung traditionsgemäß ausschließlich beim Gebet in Synagoge und Privatwohnung zu tragen ist, wird mit keinem Wort thematisiert. Exakt an einem solchen Beispiel könnte der Weg dargestellt werden, der von einer religiösen, aber vielfach nicht verstandenen Sitte hin zum gesellschaftlichen Vorurteil führt.
Auch im Abschnitt 4.10 „NS-Zeit und Holocaust als Bezugsgrößen des Antisemitismus“ vermisse ich in einer Untersuchung, die sich als Langzeitstudie ausgibt, die Erwähnung jenes Limburger Skandals vom Juli 2017, der vor einem Jahr Schlagzeilen auslöste. Ein politisch einflussreicher Finanzunternehmer, Mitglied der CDU, hatte in seinem Internetauftritt zu einem „kleinen Holocaust“ gegen gewalttätige Demonstranten aufgerufen, die beim G20-Gipfel randaliert hatten. Die Staatsanwaltschaft in Limburg an der Lahn sah darin lediglich eine geschmacklose Meinungsäußerung, aber keine öffentliche Verharmlosung des NS-Staats und sah von einem Ermittlungsverfahren ab. Und weder der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ noch die „Jüdische Allgemeine“ sahen sich zu einer Äußerung veranlasst.
Falls es bereits so weit gekommen sein sollte, dass Antisemitismus lediglich dann zur Kenntnis genommen und als Bedrohung von Demokratie und Menschenrechten gesehen wird, wenn er in den Schmuddelecken des Internets auftaucht, haben Adolf Hitler und seine neuen Anhänger wieder gewonnen.
Foto:
Titelseite der Studie „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“
© Technische Universität Berlin, Institut für Sprache und Kommunikation,
Berlin 2018