Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Chemnitz war die Stichprobe. Dort zeigte sich, wie weit der von Neonazis bereits seit über zwanzig Jahren proklamierte Kampf um die Straße, um die Parlamente, um die Köpfe und um den organisierten rechten Willen bereits gediehen ist.
Dieses Vier-Säulen-Modell war ursprünglich Teil eines Strategiepapiers, das der Parteivorstand der NPD 1998 im mecklenburgischen Stavenhagen verabschiedete. Allerdings erwies sich die Partei als personell und finanziell zu schwach, um es umsetzen zu können. Wenn man von den so genannten national befreiten Zonen in Ostdeutschland absieht, wo das mehrfach und zumindest temporär gelang. Solche Zonen werden bereits ab 1991 proklamiert. Als ihr Urheber gilt der Nationaldemokratische Hochschulbund (NHB). Auf Internetseiten diverser rechtsradikaler Organisationen kann man nachlesen, worum es damals ging und heute wiederum geht:
„Es geht keinesfalls darum, eigenständige staatliche Gebilde oder ähnlichen Unsinn ins Leben zu rufen. Nein, befreite Zonen bedeuten für uns zweierlei: Einmal ist es die Etablierung einer Gegenmacht. Wir müssen Freiräume schaffen, in denen wir faktisch die Macht ausüben, in denen wir sanktionsfähig sind, das heißt wir bestrafen Abweichler und Feinde, wir unterstützen Kampfgefährtinnen und -gefährten, wir helfen unterdrückten ausgegrenzten und verfolgten Mitbürgern. [...] Befreite Zonen sind sowohl Aufmarsch- als auch Rückzugsgebiete für die Nationalisten Deutschlands. [...] In einer befreiten Zone befinden wir uns, wenn wir nicht nur ungestört demonstrieren und Infostände abhalten können, sondern die Konterrevolutionäre dies genau nicht tun können.“
Ein solcher Zustand kann nach Einschätzung der anonym bleibenden Verfasser nur erreicht werden, wenn sich die selbsternannten „Revolutionäre“ in einem Wohngebiet der Stadt konzentrierten. Anschließend sei es unbedingt erforderlich, mit der ansässigen Wohnbevölkerung in intensiven Kontakt zu treten, um sich so „mit dem Volk zu solidarisieren“.
Die NPD wurde vor allem wegen ihrer innerparteilichen Strukturprobleme und der Konkurrenzkämpfe des Führungspersonals zunehmend bedeutungslos, aber sie hatte die Wege geebnet für andere. Für die AfD, für die Identitären, für den Dritten Weg, die Querfront und diverse Spießbürger-Initiativen aus diesem Milieu wie der Bewegung „Pro Chemnitz“ und nicht zuletzt für die Wutbürger-Rotte PEGIDA. Allesamt sind sie gewaltbereit, vor allem gilt ihnen Gewalt gegen Andersdenkende und Fremde als legitim. Der Bundeskanzlerin war von PEGIDA bereits öffentlich ein Galgen in Aussicht gestellt worden.
Die AfD, deren Führungsclique rechtsextrem und verfassungsfeindlich ist, und ihre offiziellen und inoffiziellen Bündnispartner passen das Vier-Säulen-Modell der NPD laufend an die politische Entwicklung an. Entsprechend gibt es Verbindungen zu so genannten rechten Vordenkern wie dem Verleger Götz Kubitschek (Inhaber des Antaios Verlags und Mitbegründer des „Instituts für Staatspolitik“) und zu Publikationen wie der Wochenzeitung „Junge Freiheit“, dem Magazin „Sezession“ (herausgegeben vom Institut für Staatspolitik) und „COMPACT - Magazin für Souveränität“ (das sich als Sprachrohr der AfD versteht). Von dort her wird der „Kampf um die Köpfe“ vehement betrieben.
Diesem Block hinzuzurechnen sind auch die Initiatoren und Unterzeichner der „Gemeinsamen Erklärung 2018“ vom März dieses Jahres, die den Übergangsbereich zwischen rechten Konservativen und Rechtsradikalen besetzen wollen und de facto eine Brücke zwischen dem rechten Flügel von CDU/CSU und dem AfD-Milieu bilden.
Auf diese Weise wird jener Teil des Strategiekonzepts Stück für Stück umgesetzt, der als „Kampf um den organisierten Willen“ beschrieben und mit dem das angestrebte breite Bündnis rechtsradikaler Parteien und Gruppen gemeint ist.
In Chemnitz wurde nunmehr ein weiteres Element des Vier-Säulen-Modells durchexerziert, nämlich der Kampf um die Straße. Die Tötung eines Deutschen durch mutmaßlich zwei Flüchtlinge aus Syrien bzw. dem Irak war ein willkommener Anlass, um Aktionspläne, die längst ausgearbeitet in den Schubladen liegen, umzusetzen.
Das Vorgehen dockt an das unablässig propagierte Schlagwort vom „Fremdsein im eigenen Land“ an, das sich mittlerweile als Vorurteil in den Köpfen jener Zeitgenossen festgesetzt hat, die über politische Vorgänge wenig nachdenken und folglich für jede unzulässige Vereinfachung einschließlich Fake-News empfänglich sind. Als Bedrohung des eigenen Landes (das häufig als „Heimat“ glorifiziert wird) gelten vor allem Flüchtlinge und Zuwanderer aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Afghanistan sowie aus Afrika. Begehen einige von ihnen Straftaten, gar Tötungsdelikte, sind sich Rechtsradikale und „besorgte“ Bürger schnell einig. Dann gilt jeder Flüchtling als potentieller Vergewaltiger, Schläger und Mörder. Mit dem Unwort „Messer-Migration“ wird das publikumswirksam ausgedrückt. Auf diese Weise werden die beklagenswerten Opfer instrumentalisiert und einer perversen Ideologie unterworfen.
Der bis ins Detail durchorganisierte „Trauermarsch“ von AfD, PEGIDA & Co, der durch aktivierte Mitläufer den Anschein einer Volksbewegung vermitteln sollte und in dem man Anteilnahme vergeblich suchte, erinnerte an Brechts Gedicht „Der anachronistische Zug“, das auch unter dem Titel „Freiheit und Democracy“ bekannt ist:
„Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft
Zog das durch die deutsche Landschaft
Rülpste, kotzte, stank und schrie:
Freiheit und Democracy.“
Nach Meinung der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber analysieren Bernd Höcke und Antaios-Verleger Götz Kubitschek bereits seit einiger Zeit Goebbels Schriften auf solche Paradigmen und Phrasen, die sich dazu eignen, in Schlachtrufe für die Gegenwart umgeschrieben zu werden. Man erkennt das Ziel: Die Deutungshoheit im gesellschaftlichen Diskurs soll erobert werden. Leider wird das den neuen Faschisten durch die Demokraten, insbesondere durch SPD, Grüne und Linke, sehr leicht gemacht. Ein linkes Gegenmodell, die Sammlungsbewegung AUFSTEHEN, kämpft bislang vor allem mit Bedenkenträgern aus den eigenen Reihen.
Es fällt auch auf, dass die „Wutbürger“, deren Sorgen und Ängste angeblich seit Jahren von der Politik nicht zur Kenntnis genommen werden, sich selten bis nie zu jenen Problemen äußern, die dem demokratischen Teil der Gesellschaft zu schaffen machen. Aus der rechten Sphäre kommt kein Wort zur Aufweichung des Sozialstaats, zur bedrohten sozialen Gerechtigkeit, zur Ausbeutung von Ressourcen, zur Vergiftung der Umwelt, zur Klimakatastrophe, zur drohenden Privatisierung der Daseinsvorsorge einschließlich der Altersrente und zum Neoliberalismus. Daraus lässt sich schließen, dass die Partei, die mittlerweile den rechten Marsch anführt und sich längst anschickt, den Kampf um die Parlamente zu gewinnen, überhaupt kein Interesse daran hat, sich für humane Belange einzusetzen. Im Gegenteil. Die AfD vertritt die Interessen der Monopolwirtschaft. Alexander Gauland war nie ein Arbeitnehmervertreter, Alice Weidel hat für eine Bank gearbeitet, in der Volksvermögen vernichtet wurde, Beatrix von Storch ging es nach der deutschen Vereinigung vor allem um die Rückgewinnung des von der Sowjet Union und der DDR enteigneten Grundbesitzes ihrer Familie.
Um das zu verschleiern, werden die Mitläufer, also die „besorgten Bürger“, auf Flüchtlinge und Asylbewerberunterkünfte gehetzt. Dieses Konzept bewährt sich seit dem Brandanschlag von Hoyerswerda im Jahr 1991. Der war in Ostdeutschland der Auslöser für ein um sich greifendes pervertiertes Staats- und Rechtsbewusstsein und trägt dazu bei, dass sich auch in den westlichen Bundesländern die Parlamente mit AfD-Vertretern füllen.
Foto:
Der anachronistische Zug von AfD & Co durch Chemnitz
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