p warschauaufstand1944Die Polen und der Zweite Weltkrieg, Teil 2/2

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Wankowicz‘ Schilderungen decken sich mit denen der Historiker und anderer Schriftsteller. Auch Kazimierz Brandys, polnischer Schriftsteller „jüdischer Herkunft“, widmete der polnischen Hauptstadt sein Buch „Die unbezwungene Stadt. Eine Geschichte über Warschau“ (Miasto niepokonane, 1946), wo er die Kriegsjahre auf der „arischen Seite“ überlebte. Ab Mitte August 1939 war die Kriegsgefahr spürbar geworden, die Mobilisierung lief an.

Der erste Kriegstag begann mit dem Lärm von Gewehren und Bombendetonationen. Aus dem Radio ertönte die Marseillaise, das polnische Ministerium teilte mit, dass die Engländer Hamburg, Bremen, Königsberg und Stettin bombardiert hätten, was die trügerische Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende nährte. Vom 8.9. bis zur Kapitulation der Polen am 28.9. dauerte die Schlacht um Warschau. Gegen die großangelegten Luftangriffe waren die Verteidiger auf den Barrikaden jedoch machtlos, zumal sie von keiner Seite Hilfe bekamen. Warschau brannte. Es flohen Massen über den Bug, doch manche kehrten enttäuscht zurück. Die ersten Raubaktionen jüdischer Häuser und Geschäfte folgten alsbald. Das Warschauer Ghetto wurde im folgenden Jahr errichtet und im Mai 1943 als deutsche Antwort auf den Aufstand dem Erdboden gleichgemacht. Und während das Ghetto brannte, vergnügte sich das gleichgültige Warschauer Volk auf den Karussells des nahen Vergnügungsparks, was der polnische Literatur-Nobelpreisträger Czesław Miłosz in seinem Gedicht „Campo di Fiori“ von 1943 aufs Heftigste anprangerte. Darin heißt es in der Übersetzung von Karl Dedecius: „... Ich dache an Campo die Fiori/In Warschau an einem Abend/Im Frühling vor Karussellen/Bei Klängen lustiger Lieder. /Der Schlager dämpfte die Salven/Hinter der Mauer des Ghettos/Und Paare flogen nach oben/weit in den heiteren Himmel [...]“.

Auch Jiddisch schreibende polnische Autoren wie eine der bedeutendsten Dichterinnen, Rajzl Żychlinska (1910-2001), haben den Kriegsausbruch in Warschau, dem damaligen Zentrum jiddischer Kultur, erlebt. Żychlinska schrieb bald nach der von ihr miterlebten Kapitulation Warschaus das Gedicht „Warschau 1939“: „Die Nacht ist weiß und kalt./ Von Norden rückt/ das große Eis heran./ Das Land liegt tot,/ während in glasigen Augen/ sterbender Pferde, / im letzten Flackern brennender Häuser,/ Der letzte Soldat/ hat sein Schwert abgelegt/ und ist gefallen, das Gesicht zur Erde.//[...] Eine blinde, versengte Katze/ jammert und weint -/ doch es hört sie keiner/ in der Stadt-/ doch es hört sie keiner.“ Żychlinska überlebte den Krieg im sowjetischen Kasan, kehrte in das judenentleerte und dennoch -feindliche Land zurück, um es dann für immer zu verlassen. In ihrem Heimatstädtchen Gąbin gab es keine Juden mehr, 3030 von ihnen wurden in den Gaskammern von Chełmno umgebracht, wie sie in ihrer Elegie, 1946 nach dem kurzen traumatischen Besuch dort beschrieb. Ihr Haus war geplündert, offenbar hatten die Nachbarn alle mobilen Teile für ihre Zwecke „verwertet“, mit der Rückkehr der jüdischen Besitzer rechnete niemand und wünschte diese auch nicht. Über Frankreich reiste sie in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Dieses wurde fortan von der Trauer um die ermordeten polnischen Juden, darunter ihre Mutter und Geschwister, überschattet. Abraham Sutzkever beschrieb Desgleichen und ging nach Israel.

Ähnlich schilderte es die junge jüdisch-polnische Dichterin Zuzanna Ginczanka (Zuzanna Polina Gincburg, 1917-1944). In ihrem wahrscheinlich letzten und geretteten Gedicht, das sarkastisch und unbetitelt, mit dem lateinischen Homer-Zitat Non omnis moriar (nicht alle werden sterben) beginnt, nennt sie den Namen ihrer Vermieterin, Frau Chomin, die mit Hilfe ihres Nazisohnes sie bei den deutschen Besatzern das erste Mal denunziert haben.

Das Gedicht gehört zu den bedeutendsten Werken der Shoahliteratur, zumal die im Versteck lebende Dichterin nach einer erneuten Denunziation durch Nachbarn verhaftet wurde. Der Grund ihrer Verhaftung war wohl nicht ihre jüdische Herkunft, sondern angebliche Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung. Erst ihre Schulfreundin verriet unter Folter ihrer beiden Abstammung und beide wurden im Dezember 1944, wenige Wochen vor der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 von der Gestapo hingerichtet. Das gerade durch seine Ironie so ergreifende Gedicht erhebt Anklage gegen die angeblichen „Freunde“, die sämtliche Besitztümer der Dichterin – vom Bettlaken bis zum Kleid - gierig an sich rissen und, besoffen, „ [...] beginnen im Morgengrauen nach Edelsteinen und Gold zu suchen/In den Sofas, Matratzen, Bettecken, Teppichen,/Und wie die Arbeit in ihren Händen brennt -/ Knäuel von Rosshaar,/Wolken zerrissener Kissen [...]/An ihren Händen kleben [...]/Das ist mein Blut, das Werg und frischen Daunen zusammenkittet [...]“.

Für Polen wie für Juden folgten Jahre der Verfolgung mit Erschießungen, öffentlichen Hinrichtungen, Zwangsarbeit und Konzentrationslagern, aber zur totalen Vernichtung wie die Juden war dieses Volk nicht vorgesehen, nur zu einer späteren Versklavung. Dazu kam, dass sich in Polen, in dem der Antisemitismus nicht zuletzt von der katholischen Kirche unter das Volk verbreitet wurde, genauso wie in Deutschland oder anderen besetzten europäischen Ländern, die lokale Bevölkerung am Hab- und Gut der in die von Deutschen auf polnischem Boden errichteten Todes- und Konzentrationslager deportierten oder der in den Osten geflohenen Juden bereicherte. Zuvor kam es zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung Polens, wie es der polnisch-amerikanische Historiker und Soziologe Jan Tomasz Gross in seinen Büchern beschrieben hat. Insbesondere seine berühmt gewordenen Studie „Nachbarn: der Mord an den Juden von Jedwabne“, deutsch 2001) hat ihn in den rechten Kreisen Polens zu einem der meist gehassten Menschen gemacht, was ihn aber nicht eingeschüchtert hat, wie sein weiteres Buch „Angst – Antisemitismus nach Auschwitz in Polen“, deutsch 2012, beweist.

Wie sehr das Thema der eigenen Schuld oder Unschuld Polen heute immer noch bewegt, ist seit der Regierungsübernahme durch die chauvinistische und autoritär regierende Partei von Jaroslaw Kaczynski Recht und Gerechtigkeit (PIS), nicht zu übersehen. Durch das 1999 gegründete Institut des Nationalen Gedenkens wird die polnische Lieblingspose als des unschuldigen Opfers der Geschichte lanciert und gepflegt. Seit Februar 2018 wird der öffentliche Diskurs über die deutsche Besatzungszeit und den ukrainischen Nationalismus neu geregelt und Verstöße gegen die offizielle Sichtweise insbesondere die „faktenwidrige“ Darstellung der polnischen Mitwirkung an den Verbrechen der Nationalsozialisten in der Besatzungszeit mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren geahndet.

Das hat nicht nur zu Turbulenzen im deutsch-polnischen, sondern auch im israelisch-polnischen Verhältnis geführt, denn die Thematisierung der Kollaboration mancher Polen mit den deutschen Besatzern bei antisemitischen Gewalttaten unterliegt seither der staatlichen Zensur. Auch damit verstößt Polen als EU-Mitglied gegen das geltende europäische Werte- und Rechtssystem.

Viel Aufsehen erregte daher die als ganzseitige Anzeige in den israelischen, deutschen und polnischen Printmedien veröffentlichte gemeinsame Erklärung (auch in Spanisch und Französisch) der polnischen und israelischen Regierung, in der die polnische Seite nicht ganz wahrheitsgetreu in ein zu gutes Licht gestellt wird. Bezug genommen wurde hier auf die Konferenz "Polnische Liga gegen Diffamierung - Unterstütze Polen!" Dort forderte der nunmehrige Premierminister Morawiecki die Polen auf der ganzen Welt dazu auf, den guten Ruf Polens zu verteidigen, insbesondere indem man den Begriff "polnische Todeslager" ablehnt. In der Tat sollte man die Tatsache beachten, dass es deutsche Lager auf polnischem Boden waren. Nachdem er am 17. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Gesetzentwurf noch verteidigt hatte, soll Netanjahu gesagt haben: "Es gibt hier ein Problem der Unfähigkeit, die Geschichte und die Sensibilität für die Tragödie unseres Volkes zu verstehen. Ich beabsichtige, sofort mit ihm zu sprechen.“

Wegen der genannten Zeitungsanzeige wurde ihm Geschichtsrevisionismus vorgeworfen. In Yad Vashem hat man beklagt, dass die polnische Exil-Regierung während des Krieges zwar versucht [habe], diese Nazi-Aktivitäten aufzuhalten, indem sie bemüht war, die westlichen Verbündeten auf den systematischen Mord an den polnischen Juden aufmerksam zu machen, aber "ein großer Teil des polnischen Widerstands [habe] in seinen verschiedenen Bewegungen nicht nur dabei versagt, den Juden zu helfen, sondern auch nicht selten aktiv an deren Verfolgung beteiligt war." Nach solchen Irritationen war nun zu lesen: "Seit dreißig Jahren stehen die Kontakte zwischen unseren Ländern und Völkern auf einer soliden Grundlage von Vertrauen und Verständnis", beide Länder verbinde eine "tiefe, langjährige Freundschaft", im Geiste "gegenseitigen Respekts für die Identität und historische Empfindlichkeit, gerade bezüglich der tragischsten Abschnitte unserer Geschichte" und beide Seiten wollten darüber weiterhin im Gespräch bleiben. Außerdem „wolle man aber auch, an das ‚heldenhafte Verhalten vieler Polen‘ erinnern, die ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht hätten, um Juden zu retten“. Dies entspricht der Wahrheit, denn sonst wären auch meine Eltern umgebracht worden. Dass Morawiecki jetzt zu der folgenden Aussage bereit war, zeugt von einem gewissen Grad an Ernüchterung in dem bisherigen patriotischen Taumel: "Wir erkennen an, dass es Fälle von Grausamkeit gegen Juden gegeben hat, die während des Zweiten Weltkriegs von Polen begangen wurden, und wir verurteilen jeden einzelnen dieser Fälle."

Vielleicht taut allmählich der Eispanzer um das offizielle polnische Selbstbild und eine differenzierende Aufarbeitung der eigenen Geschichte mit allen Licht-und Schattenseiten, was für alle Seiten wünschenswert wäre.

Foto:
Warschau nach dem Aufstand 1944 © Das Polen Magazin

Info:
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion der J.R. Abdruck aus „ Jüdische Rundschau“ Nr. 9 /49) September 2018.