p Keine EinbahnstraseWie man Abhängigkeit schönreden kann

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Bei den Versuchen, das Kopftuch für muslimische Frauen zu rechtfertigen, geraten Befürworter und Befürworterinnen, die in säkular geprägten Ländern wie Deutschland leben, regelmäßig in große Argumentationsnöte. Und greifen dabei zu Vergleichen, die unangemessen erscheinen. Beispielsweise zu dem, dass das Kopftuch der Sexualisierung der Frau Einhalt gebieten würde.

In letzter Zeit geht dieser Streit auch um die Frage, ob Mädchen unter 14 Jahren bereits ein Kopftuch tragen sollen. Im April dieses Jahres nahm der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) dazu Stellung. Nach seiner Auffassung widerspricht ein solcher Zwang der religiösen Selbstbestimmung. Religionsunmündige Kinder dürften zum Tragen solcher religiösen Symbole nicht gedrängt werden. Damit entfachte er eine bundesweite Debatte über ein mögliches Kopftuchverbot für unter 14-Jährige. Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands sprach sich daraufhin für ein gesetzliches Verbot aus. Seyran Ates, die Gründerin der Liberalen Moschee in Berlin, bezeichnete den NRW-Vorstoß als „längst überfällig“. Der Psychologe Ahmad Mansour, selbst Muslim, wurde besonders deutlich: „Ein Kopftuch für ein Kind ist eine Form von Missbrauch. Wir brauchen ein Verbot, um Kindern zu ermöglichen, ideologiefrei aufzuwachsen – ohne Geschlechtertrennung und Sexualisierung.“

Eine der Verfechterinnen dieser fragwürdigen Fremdbestimmung ist Alia Hübsch-Chaudhry. Sie studierte Religionswissenschaften und Germanistik in Frankfurt am Main, anschließend Religionsphilosophie. Gegenwärtig ist sie Doktorandin am Zentrum für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster/ Westfalen. Sie ist Vorsitzende für den interreligiösen Dialog der Frauenorganisation der Ahmadiyya – Gemeinden und Chefredakteurin des in München erscheinenden Internetmagazins „Das Milieu.

Die Ahmadiyya, deren Wurzeln in Pakistan liegen und die eine islamische Sondergemeinschaft sind, haben ihren Hauptsitz in London. An ihrer Spitze steht ein Kalif; Frauen steht dieses Amt nicht offen. Den Gemeinden wird nachgesagt, Ehen zwischen ihren Gläubigen zu arrangieren, was Frau Hübsch-Chaudhry in einem Interview mit hr2-kultur, das 2016 geführt wurde, nicht bestritten hat. Obwohl sie nach eigener Aussage lieber von arrangiertem Kennenlernen sprechen möchte.

Konservative und orthodoxe Muslime leiten die Pflicht zum Kopftuch für Frauen und Mädchen aus einigen Suren des Korans ab. Doch sowohl der Koran als auch die Hadithe (Überlieferungen Mohammeds) sind (nicht nur in diesem Punkt) widersprüchlich. Vielmehr belegen sie die Entstehung religiöser Überzeugungen innerhalb eines jeweiligen historischen Kontexts. „Der Islam ist Arabien und Arabien ist der Islam“ schrieb Elsa Sophia von Kamphoevener in ihrer wohlwollenden Mohammed-Biografie (erschienen 1968). Damit meinte sie die Verhältnisse auf der arabischen Halbinsel vor über 1.300 Jahren.

Selbst falls Gläubige annehmen sollten, (ein) Gott hätte in diesen Zeugnissen gesprochen, müssen sie zugeben, dass ihn seine Adressaten offensichtlich nicht übereinstimmend verstanden haben. Dieses Schicksal teilt der Islam mit sämtlichen Buch- und Offenbarungsreligionen, also auch mit Judentum und Christentum. Gläubige, die mit beiden Füßen in der Welt stehen, erkennen das an und vermeiden es, ihre Überzeugungen plakativ zu demonstrieren, gar Allgemeingültigkeitsansprüche zu stellen; denn man ist nicht allein. Im öffentlichen Raum sind diverse religiöse und nichtreligiöse Überzeugungen vertreten. Nach den Christen sind die Atheisten und Nichttheisten die größte Gruppe und könnten in zwei Jahrzehnten sogar die Mehrheit bilden. Angesichts dieser sehr unterschiedlichen religiösen bzw. nicht-religiösen Identitäten verbietet sich jedwede Art von religiöser Uniformierung. Zudem ist niemand in der Lage, den Wahrheitsbeweis in Glaubenssachen zu führen, der Irrtum ist der ständige Begleiter des Glaubens. Wirklich überzeugen kann man nur durch ethische Haltung und humane Praxis. Schleier, Gewänder und rituelle Formeln mögen in den Gebets- und Versammlungsräumen der Konfessionen ihren Sinn haben. Auf den Straßen und Plätzen sowie in öffentlichen Gebäuden provozieren sie ohne Not die Andersdenkenden.

Alia Hübsch-Chaudhry, die nach eigenem Bekunden bereits mit elf Jahren ein Kopftuch trug, hat nun in einem Leserbrief an die „Frankfurter Rundschau“ ihr archaisches Religionsverständnis mit Verweisen auf sexualisierte Frauenbilder zu rechtfertigen versucht. Doch die Alternative zu mehr oder weniger entblößten weiblichen Körpern kann nicht deren totale Verhüllung sein. Vor allem dann nicht, wenn dies als Demutsbezeugung vor einem geglaubten Gott gefordert wird. Denn das wäre ein Affront gegenüber allen Frauen, die sich ihr Auftreten weder von Göttern und Propheten noch von weltlichen Herrschern und schon gar nicht von der kapitalistischen Konsumwelt vorschreiben lassen.

Die persönliche Identität eines Menschen ist das Ergebnis einer Reflektion unterschiedlicher Erfahrungs- und Lerninhalte, die erst mit dem Tod enden. Diese Prozesse beginnen zwar bereits früh, aber elfjährige Mädchen werden noch nicht in der Lage zu abschließenden Erkenntnissen sein. Vielmehr muss man ihnen (so wie allen Menschen) die Chance geben, immer wieder neue Eindrücke sammeln und verarbeiten zu können.

Der bereits erwähnte Ahmad Mansour schreibt in seinem unlängst erschienenen neuen Buch „Klartext zur Integration“, dass Religionsfreiheit keine Einbahnstraße sei, ebenso kein Freibrief, um Religion unbegrenzt leben zu können. Religionsfreiheit bedeute auch, Kritik an der Religion üben zu dürfen. Nicht zuletzt sei Religionsfreiheit nämlich auch die Freiheit von der Religion.

Alia Hübsch-Chaudhry ist die zweitjüngste Tochter des 2011 verstorbenen Imam und Schriftstellers Hadayatullah Hübsch, der zum Islam konvertiert war. Als selbstbestimmte Frau, die zu sein sie vorgibt, sollte sie erkennen, dass es höchste Zeit ist, all das nachzuholen, was man ihr als Elfjähriger offensichtlich zu lernen verweigert hat.

Foto:
Keine Einbahnstraße
© bruecke-unter-dem-main.de