p sudentenkarteHitler besetzt das Sudetenland - Ein Zeitzeuge erinnert sich, Teil 2/2

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - In seiner Rede vom 12. September 1938 auf dem Parteitag in Nürnberg hatte Hitler tschechische Verständigungsangebote höhnisch zurückgewiesen. „Herr Beneš hat den Sudetendeutschen keine Geschenke zu geben“, sagte er. „Sie haben das Recht, ein eigenes Leben zu beanspruchen. Wenn die Demokratien aber der Überzeugung sein sollten, die Unterdrückung der Deutschen beschirmen zu müssen, dann wird dies schwere Folgen haben.“ Unter dem Eindruck der Drohungen Hitlers schlug der britische Premier Neville Chamberlain König Georg VI. vor, in direktem Gespräch mit dem deutschen Reichskanzler eine gemeinsame Regelung der „tschechischen Frage“ anzustreben. Dann könnten Deutschland und Großbritannien zusammen als Stützen gegen den Kommunismus zusammenstehen.

Davor hatte der französische Außenminister Ivon Delbos der tschechischen Regierung bereits zu verstehen gegeben, dass sein Land, ebenso wie Großbritannien, die Sudetenfrage erledigt sehen möchte. Unter Druck gesetzt bot die tschechische Regierung den Sudetendeutschen schließlich Selbstverwaltung an. Eine volle politische Autonomie sei technisch nicht möglich, erklärte der damalige Regierungschef Milan Hodža. Die deutsch besiedelten Gebiete seien nicht homogen, stellten also kein einheitliches Ganzes dar. Politisch sei eine Autonomie nicht zu vertreten. Dadurch würde der Staat unangemessen geschwächt. Der deutschen Bevölkerung einmal gewährt könnte sie den Ungarn kaum vorenthalten werden. Als Präsident Beneš weitere Zugeständnisse machte, trat die Regierung unter dem Eindruck massiver Proteste der tschechischen Nationalisten und der Kommunisten geschlossen zurück.

Zu den westlichen Politkern, die die Aussicht auf eine gütliche Lösung skeptisch beurteilten, gehörte der britische Marineminister Duff Cooper, der später aus Protest gegen das Münchner Abkommen über den „Anschluss“ des Sudetenlandes an das Großdeutsche Reich sein Amt zur Verfügung stellte. Er sagte, solange der Nazismus in Deutschland herrsche, werde es niemals Frieden geben. Hitler reagierte auf tschechische Gesprächsangebote geradezu hysterisch. Er bezeichnete den tschechischen Staatspräsidenten als „Wahnsinnigen“, der den Deutschen endlich die Freiheit geben müsse. Während einer Rede im Berliner Sportpalast fügte er am 26. September 1938 hinzu: „Oder wir werden uns diese Freiheit jetzt holen“. Am Tag darauf äußerte er gegenüber dem britischen Abgesandten Horace Wilson, falls die Tschechen nicht bis zum 28. September um 14 Uhr einlenkten, werde er am 1. Oktober „an der Spitze der Deutschen Wehrmacht ins Sudetenland einrücken“.

Angesichts der unverhüllten Kriegsdrohungen aus Berlin kam es zu dem berüchtigten Münchner Abkommen vom 29. September 1938, das der Tschechoslowakei die Abtretung des Sudetenlandes an Nazideutschland auferlegte. Die tschechische Regierung wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Resigniert sagte Außenminister Kamil Krofta, als ihm das Abkommen in Prag überreicht wurde: „Das ist für uns eine Katastrophe. Wir unterwerfen uns. Wir sind bestimmt nicht die Letzten. Nach uns werden andere an die Reihe kommen.“ Am 1. Oktober 1938 überschritten deutsche Truppen die Grenze zur Tschechoslowakei. Als Soldaten mit einer „Gulaschkanone“ auch in meinem Heimatort auftauchten, drängten sich die Kinder um den dampfenden Kessel. Auch ich hätte gern einen Teller Erbsensuppe mit Speck gegessen, aber meine Mutter verbot es mir. In den ersten drei Monaten nach der Annexion des Sudetenlandes wurden allein in das KZ Dachau bei München zweieinhalbtausend sudetendeutsche Gegner Hitlers eingeliefert, und auch unser Dorfschulmeister rückte jetzt mit seiner wahren Gesinnung heraus. Er riet meiner Mutter, statt des roten Kleides jetzt ein blaues anzuziehen.

Zur selben Zeit, da Hitler sich im Licht seines Münchner Erfolges sonnen konnte, musste der britische Premier Neville Chamberlain wegen des Münchner Abkommens scharfe Kritik über sich ergehen lassen. Sein konservativer Parteifreund Winston Churchill hielt ihm im Unterhaus vor: „Ich möchte etwas höchst Unpopuläres und Unwillkommenes sagen, nämlich, dass wir eine völlige, durch nichts gemilderte Niederlage erlitten haben. Das Äußerste, was der Premierminister in den zur Diskussion stehenden Angelegenheiten der Tschechoslowakei herausschlagen konnte, ist, dass der deutsche Diktator, anstatt die Speisen vom Tisch zu rauben, sich damit zufrieden gibt, sich nun Gang für Gang servieren zu lassen. Alle Länder Mitteleuropas werden, eines nach dem anderen, in den Bannkreis dieses ungeheuren politischen Gewaltsystems geraten.“ Für Hitler war die Annexion des Sudetenlandes nur das Vorspiel zu einer viel größeren Unternehmung: Der Neuordnung Europas und der Errichtung eines germanischen Riesenreiches unter deutsche Führung. Die Sudetendeutschen folgten ihm dabei willig.

Im Herbst 1942 bekam meine Mutter Post vom „K-Führer des Bannes Trautenau“, Hötzel. „Wie mir der Einheitsführer Ihres Sohnes Kurt mitteilte, besucht dieser den Hitler-Jugend-Dienst sehr unregelmäßig“, schrieb er ihr am 12. Oktober 1942 auf einem Briefbogen der NSDAP. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie auf Grund des vom Führer und Reichskanzler erlassenen Jugend-Dienstgesetzes verpflichtet sind, Ihren Sohn zum regelmäßigen HJ-Dienst anzuhalten. Sollten Sie dies nicht machen; so machen Sie sich auf Grund obigen Gesetzes strafbar. Sollte Ihr Sohn noch weiterhin den Dienst schwänzen, so sehe ich mich gezwungen, den Fall der gegebenen Stelle weiter zu leiten.“ Am 3.November 1942 erhielt auch mein Vater einen Brief. Er war doppelt so lang und endete mit der Drohung: „Ich mache Sie nun letztmalig darauf aufmerksam, dass ich bei nochmaligem Fernbleiben Ihres Sohnes vom Hitler-Jugend-Dienst den Antrag auf strengste Bestrafung stellen werde.“ Während der Sommerferien des folgenden Jahres wurde ich in ein „Wehrertüchtigungs-Lager“ nahe der westböhmischen Stadt Mies befohlen. Dort lernte ich das Morse-Alphabet und das Verlegen von Telefonleitungen im Gelände. Im Dezember 1944 wurde ich zur Wehrmacht einberufen – sechs Jahre nachdem ich als Elfjähriger erstmals Hitlers Stimme aus dem Radio gehört hatte.

Foto:
Propagandakarte
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Info:
Abdruck aus
Kurt Nelhiebel, Gegen den Wind“, PapyRossa Verlag, Köln 2017

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