Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Es war vermutlich eine spontane Geste, aber sie berührte die Herzen von Millionen Menschen, so wie einst der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Getto. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, steht, den Kopf leicht gesenkt, neben dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Plötzlich wendet sie sich nach links und – so als zögerte sie im letzten Augenblick - lehnt dann für Sekunden ihre Stirn an Macrons Schläfe. Eine Szene für die Ewigkeit.
So geschehen in der Nähe von Compiègne hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg am 10. November 2018 bei der Einweihung einer Gedenkplatte für die getöteten Soldaten des großen Mordens. Was da geschah sagt mehr aus als alles, was ich im Laufe meines Lebens über die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gehört und gelesen habe. Mir stehen noch die Filmaufnahmen vor Augen, die Hitler vor einem Salonwagen in Compiègne zeigen, wohin die Naziführung im Juni 1940 die internationale Presse eingeladen hatte, um nach dem Sieg über Frankreich vor den Augen der Weltöffentlichkeit Revanche zu nehmen für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg, die 1918 in jenem Salonwagen besiegelt worden war.
1940 war ich dreizehn Jahre alt und hätte mir niemals vorstellen können, dass ich als Soldat das Grauen des Zweiten Weltkrieges noch selbst am eigenen Leibe würde erfahren müssen. Kurz bevor ich zur Wehrmacht eingezogen wurde, hatte mein Vater mir zum 17. Geburtstag diese Worte auf den Weg gegeben: „Sieh zu, dass die Kriegsfurie Dich nicht zu ihrem Spielball macht. Du weißt, was ich vom Krieg an und für sich halte: Ich hasse ihn, weil er nur Tod und Zerstörung hinterlässt. Man müsste alle Kriegtreiber jenem Schicksal überantworten, das insbesondere die ärmeren Volksschichten in Kriegszeiten zu erleiden haben. Man müsste sie mittellos und obdachlos für Jahre machen, damit sie an sich selbst erproben, was sie anderen zynisch zumuten.“
Zum Glück ist der Brief nicht in falsche Hände geraten. Dass mich die Kriegsfurie schließlich doch zu ihrem Spielball gemacht hat, ließ sich nicht verhindern. Aber die Worte meines Vaters haben mich ein Leben lang begleitet. Vor wenigen Tagen konnte ich Einiges davon weitergeben. Ich war als Ehrengast zu einer Veranstaltung eingeladen worden, mit der junge Menschen in Bremen seit vielen Jahren dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit entgegen treten. Sie findet im traditionsreichen Bremer Rathaus statt und nennt sich „Nacht der Jugend“. Wachgehalten werden soll damit insbesondere die Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. November 1938, dem unheilvollen Vorspiel des Massenmordes an den europäischen Juden.
Hier zum Abschluss mein Grußwort: Ehrengast einer Veranstaltung zu sein, in der junge Menschen ihre Stimme gegen das Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit erheben, betrachte ich als besondere Auszeichnung, ähnlich dem „Stern der Hoffnung über dem Herzen“, von dem Ingeborg Bachmann in einem ihrer Gedichte spricht. So lange ich denken kann begleitet mich die Sorge, dass eines Tages niemand mehr weiß, wie das begann, was mit Auschwitz endete.
Dass jetzt ein Mann nach dem höchsten Parteiamt der CDU greift, der öffentlich bekundete, seine Generation wolle sich nicht mehr für Auschwitz und die deutsche Vergangenheit in Haftung nehmen lassen, beunruhigt mich. Als er das sagte, waren seit der Nazizeit 45 Jahre vergangen. Für einen anderen, den späteren Bundeskanzler Helmut Kohl, war es 17 Jahre nach dem Ende der Barbarei noch zu früh für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus. Ich war dabei, als er das dem Initiator des Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer, entgegenhielt. Wurde der richtige Zeitpunkt verpasst?
Inzwischen sitzt eine Partei als drittstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag, deren Vorsitzender die Nazizeit als „Vogelschiss“ abtut, gemessen an tausend Jahren deutscher Geschichte. Gehört die Erinnerung an die Verbrechen der Nazizeit und die Scham über das Wegsehen für manche nicht zur nationalen Identität? Dass der Tag der Befreiung von Auschwitz seit 1996 in Deutschland als gesetzlich verankerter Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen wird, reicht nicht. Wir sollten auch derer gedenken, die unter Gefahr für Leib und Leben Widerstand geleistet haben. Sie bildeten schließlich das Fundament des demokratischen Wiederaufbaus.
Ausgerechnet zu einer Zeit, da sich der Naziungeist wieder breit macht, hat die SPD jetzt ihre Historische Kommission aufgelöst. Dabei ist immer noch nicht erfüllt, was der einstige Bundespräsident Gustav Heinemann 1970 gefordert hat, nämlich, dass ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt.
Lassen Sie sich nicht entmutigen. Mischen Sie sich ein, wann immer und wo auch immer sie die Demokratie bedroht sehen.
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Merkel und Macron
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