kpm gesellschaftlicher WandelUnd die Irrwege entlarven

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Zwei schlechte Hälften ergeben kein Ganzes, meinte Prof. Rainer Forst in seinem Beitrag zu den diesjährigen Römerberggesprächen in Frankfurt am Main.

Und drückte damit aus, dass er die Demokratie in der Krise sieht. Doch Politik- und Sozialwissenschaftler neigen regelmäßig dazu, gesellschaftliche Prozesse unterschiedlich und mit geradezu gegensätzlichen Schlussfolgerungen zu interpretieren. Unberücksichtigt bleibt dabei wiederholt ein wesentliches Ziel jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Nämlich diese Vorgänge so zu gestalten, dass sie die Menschen und die Welt der Menschen im Sinn der Teilhabe aller, einer umfassenden Gerechtigkeit und der Solidarität verändern.

Einen ähnlichen Befund äußerte Karl Marx 1845 in seiner elften These über den Philosophen und Religionskritiker Ludwig Feuerbach. Damals ging es um die Frage, ob die Idee des Christentums Antworten lieferten könnte auf die reale Situation aller, die dringend der Gerechtigkeit, also der materiellen und intellektuellen Erlösung im Hier und Jetzt, bedurften. Marx konstatierte, dass Feuerbach die christliche Ethik nicht als ein gesellschaftliches Produkt verstünde, obwohl er Religion als Projektion menschlicher Bedürfnisse auf eine Metaebene bezeichnet hatte. Folglich sei die Religion gespalten. Zum einen in den guten Willen, der es beim Wunsch nach besseren Verhältnissen belassen würde, zum anderen in die praktische Umsetzung dieses Willens, die aber mangels Bodenhaftung nicht vorankäme.

Rainer Forst sieht vergleichbare spalterische Tendenzen bei einem anderen gesellschaftlichen Ziel: der Demokratie. Die sei in eine Krise geraten, weil auf der einen Seite ein autoritärer Populismus für die Mechanismen der Globalisierung allzu schlichte Erklärungsmuster liefere, die von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geprägt seien. Und auf der anderen Seite, weil auch bei Linken eine unzulässige Vereinfachung feststellbar sei. Auch sie mische europa- und globalisierungskritische Perspektiven mit Vorbehalten gegenüber Migranten und dem Islam. Zudem fände keine Analyse der Prozesse im demokratischen System statt. Man kann zwischen den Zeilen die Thesen des Systemtheoretikers Niklas Luhmann heraushören. Nämlich das Bestreben aller Heilsbotschaften, insbesondere der Religionen, die Komplexität der Welt zu reduzieren, um sie erklärbar und beeinflussbar zu machen.

Forst macht dies bei den Linken exemplarisch an einer angeblich unentschlossenen Haltung gegenüber dem Brexit fest sowie an der vermeintlichen Inkonsequenz der Sammlungsbewegung AUFSTEHEN, die unlängst nicht dazu bereit gewesen wäre, sich an der Demonstration UNGETEILT gegen Rassismus und für offene Grenzen zu beteiligen. Letzteres ist eindeutig falsch; denn die Distanzierung von Sahra Wagenknecht (die er zwar namentlich nicht erwähnt, aber offensichtlich meint) lässt sich weder auf die Partei Die Linke oder auf nichtorganisierte Linke noch auf AUFSTEHEN allgemein übertragen. Geradezu abenteuerlich erscheint Forsts Wahrnehmung der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die ihm als linkspopulistisch erscheint und dennoch oder gerade darum eine Koalition mit der Lega Nord eingegangen ist.

Diese Bewertungen mögen auf einer unzureichenden bis falschen Kenntnis der Tatsachen beruhen. Absurd, ja geradezu gefährlich, werden seine Prämissen, wenn er diese abstrahiert: „Wir leben in einer Zeit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die globaler Natur sind, aber der normative Denkrahmen, innerhalb dessen wir Politik verstehen, ist auf der nationalen Ebene stehengeblieben.“

Globalisierung ist de facto nichts anderes als imperialistischer Kapitalismus, der lediglich im neuen Gewand daherkommt. Dessen Herrschafts- und Kommandozentralen befinden sich in den traditionellen Zentren der Alten Welt, also in US-amerikanischen, europäischen, japanischen, mittlerweile auch koreanischen und zunehmend in chinesischen Unternehmen. Sie alle ringen um Positionen auf dem Weltmarkt, den sie aber nicht als Markt im Sinn von Angebot und Nachfrage verstehen. Vielmehr manipulieren sie ihn, indem sie dafür sorgen, dass Chancengleichheit ausgeschlossen ist und dass die Produktion von Gütern unabhängig von tatsächlichen Bedürfnissen und ohne Rücksicht auf ökologische Folgen durchgesetzt wird. Und genauso wie zu jenen Zeiten, die als kolonialistisch galten, werden in den unterworfenen Ländern Bündnisse mit den jeweiligen nationalen Oligarchien geschlossen. Die Antwort der Linken darauf ist seit jeher die Propagierung des Internationalismus aller Werktätigen. Denn das gegeneinander Ausspielen der arbeitenden Bevölkerung (Niedriglohn und Leiharbeit contra Tariflohn, Einwanderer und Flüchtlinge contra Geringqualifizierte, Ausland contra Inland) ist ebenfalls ein altes Lied, das von linken Sozialdemokraten und Sozialisten seit eineinhalb Jahrhunderten mehr geschrien denn gesungen wird.

Im Gegensatz zu den Linken stellen Rechte nicht das System, das Ungerechtigkeit hervorbringt, infrage. Vielmehr wollen sie die unsozialen Verhältnisse sogar zementieren, indem sie (wie aktuell die AfD) einen Ständestaat proklamieren, der nach Autarkie strebt, aber ebenfalls auf Sklavenarbeit in Osteuropa, Afrika und Asien setzt. Die nationalistische und betont fremdenfeindliche Neue Rechten ist keineswegs die negative Hälfte der heutigen Demokratie, sie ist durch und durch undemokratisch. Denn tatsächlich handelt es sich bei ihr um ein spätes Kind des Feudalismus, das folglich keine Gemeinsamkeiten mit der Demokratie aufweist. Geschichtsphilosophisch ist sie nichts anderes als der Kompost überwundener Zeiten, der aber immer noch Gift absondert.

Nicht zufällig fußt der Trumpismus in den USA, den die AfD mit Sympathie begleitet, auf der Idealisierung jener Verhältnisse, die 1861 zum amerikanischen Bürgerkrieg führten: Industrie und Industrieproletariat des Nordens gegen die Baumwoll-Barone des Südens. Letztere spielten ihre Arbeiterschaft auf besonders subtile Weise gegeneinander aus: Die afroamerikanischen Sklaven rangierten auf der sozialen Leiter so weit unten, dass jeder weiße Hilfsarbeiter mit Verachtung auf sie herabblicken und dadurch seine eigene Minderwertigkeit kompensieren konnte.

Die von Rainer Frost diagnostizierte Krise der Demokratie existiert und sie ist hoch gefährlich. Aber sie hat andere Mütter und Väter und bedarf anderer Lösungsansätze.

Nach meinen Beobachtungen an der Basis ist als größte Ursache eine übergreifende Bildungsferne (auch bei gut Ausgebildeten bis hin zu Akademikern) festzustellen, die mittlerweile zu einer breiten politischen Bewusstlosigkeit geführt hat. Allein die Art und Weise der Nutzung digitaler Medien spricht für eine um sich greifende Verblödung.
So erwächst die Europaskepsis vor allem aus der nicht zu leugnenden Eroberung der europäischen Idee durch Lobbyisten der Monopolwirtschaft. Die gemeinsame Währung ist ständig den Angriffen einflussreicher Banken ausgesetzt, denen es sogar gelang, dass einer ihrer Vertreter (Mario Draghi) zum Währungshüter bestellt wurde. Gegen die grünen Grenzen in Europa erhebt kaum jemand Einwände, weil sie direkt wahrnehmbare Vorteile bieten.
Vorbehalte gegenüber dem orthodoxen Islam, die in allen westeuropäischen Staaten festzustellen sind, erwachsen vor allem durch dessen enge Bindung an autokratische Herrschaftssysteme in der arabischen Welt. In diesem Kontext ist auch die Distanz gegenüber Flüchtlingen aus diesen Regionen einzustufen, die längst nicht nur auf rassistische Vorurteile zurückzuführen sind. Können Menschen, die aus ihrer Welt fliehen und sich von Europa ein besseres Leben versprechen, solche Kulturbrüche verarbeiten? Muss Integration nicht durch die Setzung von völlig anderen Prioritäten, beispielsweise durch die Einübung von demokratischen Freiheiten, erfolgen? Ist mit Religionsfreiheit nicht auch die Freiheit von der Religion gemeint? Schließlich haben die Europäer die Vereinnahmung des Lebens durch die Katholische Kirche überwiegend erfolgreich abgewehrt, selbst in Italien und Spanien.

Rainer Frost beklagt auch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, die zu einer Deutung der gesellschaftlichen Prozesse in der Lage ist. Eine solche Sprache fehlt, weil es an politischem Bewusstsein mangelt und das Mittelmaß zum Qualitätskriterium erhoben wurde (in Deutschland fühlen sich die meisten Parteien einer Mitte verbunden, die streng genommen gar nicht existiert). Wer die Grammatik der Freiheit beherrscht, dem wird es nicht einfallen, von einer Spaltung der Demokratie zu sprechen, sondern von einer Bedrohung der Demokratie durch Nichtdemokraten. Und er wird ebenso nicht die Zivilisierung von Herrschaftsverhältnissen fordern, sondern eine Zivilgesellschaft, die auf Hierarchien und damit auf Herrschaft verzichten kann.

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Gesellschaftlicher Wandel
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Info:
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie und Co-Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er arbeitet zu Fragen der praktischen Vernunft und der Grundlagen der Moral sowie über die Grundkonzepte der normativen politischen Theorie, insbesondere über Gerechtigkeit, Toleranz und Demokratie. Im Jahr 2012 erhielt er den Leibniz-Preis, den höchsten deutschen Forschungspreis. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Werke erscheinen bei Suhrkamp, so auch „Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs“, „Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit“ und „Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen.