Die SPD läuft Gefahr, endgültig an ihren Lebenslügen zu scheitern
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im Deutschlandtrend der ARD vom 15. November ist die SPD weiter abgestürzt. Im Vergleich zum Vormonat büßt sie bei der Umfrage von Infratest dimap einen Punkt ein und erreicht nur noch 14 Prozent. Damit liegt sie gleichauf mit der faschistischen AfD, die zwei Punkte verlor. Mutmaßlich wirkt sich deren Affäre um Auslandsspenden bereits aus.
Doch was hat den anhaltenden Niedergang der Sozialdemokraten weiter beschleunigt? Erst vor einer Woche beschäftigte sich die Partei in einem von ihr so benannten „Debattencamp“ mit sozialen Fragen und signalisierte damit, dass ihr der Verlust des ureigensten Terrains durchaus bewusst ist. Nach dem Desaster bei den Landtagwahlen in Bayern und Hessen schrieb Generalsekretär Lars Klingbeil allen Mitgliedern einen Brief, in dem es unmissverständlich hieß: „Wir müssen etwas verändern!“ Aber sowohl den Willen zur Veränderung als auch die Fähigkeit, einen solchen umzusetzen, trauen ihr die Wähler nicht mehr zu. Selbst 46 Prozent der SPD-Anhänger wissen nicht, wofür ihre Partei steht. Von der Gesamtheit der Befragten können 68 Prozent ihr keine unverwechselbaren Eigenschaften zuerkennen. Und auf die Frage, ob die Erneuerung der SPD unter Andrea Nahles gut vorankomme, stimmen lediglich 38 Prozent ihrer Anhänger zu; in der gesamten Wählerschaft sind es gar nur 15 Prozent.
Unter dem Druck miserabler Wahlergebnissen und desillusionierender Umfragen spricht sich die Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles für eine Reform von Hartz IV aus. Wohlgemerkt: Nur für eine Reform, nicht für eine grundsätzliche Revision. Angedacht ist ein „Bürgergeld“ etwa in der Höhe des Existenzminimums. Auf Sanktionen nach Regelverstößen soll weitgehend verzichtet werden. Doch auf welche Weise Langzeitarbeitslose qualifiziert und in stabile Arbeitsverhältnisse vermittelt werden können, ist den ersten Ankündigungen nicht zu entnehmen.
Das deutet darauf hin, dass die Verantwortlichen auch nach 16 Jahren nicht begriffen haben, was dieses Regelwerk für die Betroffenen, aber auch für die Allgemeinheit bedeutet. Ja, es geht auch ums Geld, das eine Teilhabe am normalen Alltagsleben nicht gestattet, aber nicht nur. Allein das Antragsverfahren auf Arbeitslosengeld II ist ein Einschüchterungsprozess, der mit dem widerwärtigen und zynischen Schlagwort „Fordern und Fördern“ umschrieben wird.
Denn mindestens die Hälfte der Langzeitarbeitslosen in den Jahren 2004 bis 2012 waren Opfer von wirtschaftlichen Strukturveränderungen, auf welche sie selbst keinen Einfluss hatten. Wer trotz guter Berufsausbildung und langjähriger Erfahrung als zu alt (sprich: zu teuer) galt, dem halfen weder Arbeitsagentur noch Jobcenter. Ebenso trug die Privatisierung bislang öffentlicher Dienstleistungen zu einem Verdrängungswettbewerb unter den plötzlich arbeitslos Gewordenen bei. Wer beispielsweise als Zusteller bei der Deutschen Post AG arbeiten wollte, musste sich mit einem geringen Lohn zufrieden geben; hingegen wurden ihm fachliche Tugenden wie Orientierungsfähigkeit, vertraulichen Umgang mit Daten, verstehendes Lesen oder die Beherrschung der deutschen Sprache nicht abverlangt. Die Qualität der Post an in einigen Regionen einen Tiefpunkt erreicht.
Die Befristung von Arbeitsverträgen im Staatsdienst hat bis heute zur Folge, dass Teile des akademischen Nachwuchses, die bekanntlich auf Kosten der Allgemeinheit ausgebildet wurden, nach wie vor über wenig Planungsperspektiven verfügen. Das führt unter volkswirtschaftlichen Aspekten zu geringeren Steuer- und Sozialabgaben als in dieser Bildungsgruppe üblich.
Eine positive volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist im gesamten Niedriglohnsektor nicht gegeben. Denn wer bereits durch seine Berufstätigkeit nur ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielt, wird spätestens als Rentner auf eine Alimentierung durch die Gesellschaft angewiesen sein. Niedriglohn und Leiharbeit sind einseitige Bevorzugungen privatwirtschaftlicher Einzelinteressen zu Lasten des Gemeinwohls. Exakt das waren die Ziele, die sich SPD-Politiker wie Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Walter Steinmeier, Hans Eichel oder Wolfgang Clement von Wirtschaftslobbyisten in die „Agenda“ diktieren ließen.
Das Prinzip von „Fördern und Fordern“ erwies sich zudem von Anfang an als unpraktikabel bei jenen, deren Bildungsferne von sämtlichen Bundes- und Landesregierungen seit den 50er Jahren akzeptiert worden waren. Bei diesen Menschen würde nur ein „Fördern, Fördern, Fördern“ nutzen. Ein solches aber hätte den bewussten Verzicht auf Arbeitssklaven bedeutet und den neoliberalen Kapitalismus an einer empfindlichen Stelle getroffen.
Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe haben Hunderttausende als eine tiefe Degradierung und Missachtung ihrer Lebensleistung erfahren. Weil Menschen, die jahrelang, nicht wenige sogar Jahrzehnte, gearbeitet und Steuern sowie Sozialabgaben entrichtet haben, einer Gruppe zugeführt wurden, deren Zugehörige aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten wollen oder können. Im abgegrenzten Raum von Hartz IV wurde die Gesellschaft klassenlos, aber nur dort. In allen übrigen Schichten wurden Klassenschranken neu eingezogen.
Deswegen ist es höchste Zeit, sich vom politischen Denken in den Kategorien von Peter Hartz und Gerhard Schröder zu verabschieden. Dies wird der SPD aber nur möglich sein, falls sämtliche Funktionäre und Mandatsträger, die an der „Agenda 2010“ mitgewirkt haben, zumindest ihre Vorstandsämter verlieren. Denn eine Revision der Agenda, die gleichzeitig das Schönreden von katastrophalen Fehlern beinhaltet, dürfte den Vertrauens- und Stimmenverlust bei den Wählern nicht aufhalten können.
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Grafik zum Deutschlandtrend November 2018
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