kpm Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur im ehemaligen RIAS Gebaude in BerlinBetreibt Deutschlandfunk Kultur gelegentlich Scholastik statt Aufklärung?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Während nicht nur Politiker und Prominente nach dem jüngsten Datenklau auf Distanz zu den „sozialen Netzwerken“ gehen, öffnet „Deutschlandfunk Kultur“ seine Frequenzen für ihre Rechtfertigung.

Der in Wuppertal lehrende Philosoph Peter Trawny, ein Heidegger-Experte, fragt in einem „philosophischen Kommentar“ am 13. Januar allen Ernstes, ob ein Rückzug ins Private, also ein Auszug aus dem Netz, überhaupt noch möglich sei. Und er diagnostiziert: „Politische Beteiligung geht nicht mehr ohne digitale Medien.“ Schließlich seien Facebook, Twitter und Instagram eine Dimension der Welt, in der wir leben. Nichts trenne diese Form der Öffentlichkeit von anderen Formen. Heute würden die „sozialen Medien“ immer mehr das, was in der antiken griechischen und römischen Stadt die Agora oder das Forum waren, nämlich Märkte der Waren und Meinungen. Sie seien der Ort, an dem politisch gestritten werde. Wer sich politisch engagieren wolle, müsse auf die eine und andere Weise auf der Agora, also den „sozialen Medien“ erscheinen. Dass es sich bei letzteren um kommerzielle Unternehmen handelt, deren Geschäftsmodell das Sammeln persönlicher Daten ist, ficht den Philosophen nicht an. Denn trotz ihrer Begehrlichkeiten sieht er die Privatsphäre von ihnen nicht bedroht.

Bereits Peter Trawnys erste Feststellung, der zufolge wir uns täglich in Twitter, Facebook und Instagram bewegen, ist eine Mutmaßung. Lediglich seinem eigenen Eingeständnis nach bewegt er sich dort und er sieht sein Verhalten als das typische an. Wir, die Masse aller Ichs, tun das allenfalls mehrheitlich; vorausgesetzt, die von den Betreibern der Foren verbreiteten Zahlen würden stimmen (was man mit guten Gründen anzweifeln darf). Und es wäre absolut falsch, von der Quantität der Nutzer auf die Qualität ihrer Bildung, ihres gesellschaftlichen Bewusstseins oder ihrer politischen Präferenz zu schließen. Denn nicht alle Bürger mit hoher Affinität zu den digitalen Medien sind sich der damit verbundenen Risiken bewusst und zu viele von ihnen verwechseln nachweislich beim Argumentieren für diese Kommunikationsforen die logischen Ebenen – so wie der Philosoph Trawny das leider auch tut.

Erstes Beispiel dafür ist das von ihm offenbar exzessiv genutzte Smartphone. Dessen Betriebssystem (in den meisten Fällen Android oder iOS) ist so programmiert, dass der Hersteller zumindest die Strukturen der Aktivitäten erkennen kann. Doch je mehr Informationen zusammen fließen, umso einfacher ist es, aus den einzelnen Elementen ein ziemlich genaues Persönlichkeitsprofil zu erstellen. Denn Google (Android) und Apple (iOS) verkaufen nicht nur die entscheidenden Teile der Gerätesoftware, sondern auch die Ergebnisse ihres Konsumentenmarketings. Ausspioniert wird zudem nicht nur der jeweilige Eigentümer des Smartphones, sondern alle Personen, über die personenbezogene Daten wie E-Mail-Adresse, Telefonnummer etc. gespeichert sind. Deswegen setzt die Speicherung fremder Daten die ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen voraus. Andernfalls würde man sich strafbar machen und müsste damit rechnen, wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten belangt zu werden. Peter Trawny unterlässt es, auf diese folgenreichen Fallstricke der digitalen Dimensionalität hinzuweisen. Er begnügt sich damit festzustellen, dass diese existiert, folglich legal und auch vernünftig sei.

Ein zweites Beispiel ist die erstaunlich unkritische Bewertung kommerzieller Netze (Facebook, Whatsapp, Instagram, Twitter, YouTube), die vom Autor sogar als „soziale“ bezeichnet werden. Zweifellos stellen diese eine Dimension der Welt dar. Aus ihrer Faktizität, die rein quantitativer Natur ist, lassen sich jedoch keine positiv besetzten Eigenschaften ableiten. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist nicht der uneingeschränkte und wünschenswerte vertrauliche Austausch von Informationen, sondern die Bereitstellung einer Informationsplattform, deren Nutzungsentgelt in der Form persönlicher Daten erhoben wird. Jede E-Mail, die aus von Firewall und Virenscanner geschützten PCs versandt wird, kommt dem Recht auf informelle Selbstbestimmung näher als die Posts auf dissozialen Netzwerken – auch wenn selbst diese Kommunikation mit Risiken behaftet ist.

Die Wirklichkeit ist nur dann vernünftig und ethisch zu akzeptieren, wenn sie nicht nur der Schein einer (gewünschten und interessensgeleiteten) Wirklichkeit ist (beispielsweise jener der Datenkraken), sondern der notwendigen Vernunft entspricht. Hegel hat das sinngemäß in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ mit der erwünschten Klarheit deutlich gemacht. Die im Netz weit verbreitete Kinderpornografie ist nämlich ebenfalls ein Teil der Wirklichkeit und wäre damit den von Trawny definierten Dimensionen zuzurechnen. Aber es handelt sich um eine Wirklichkeit jenseits der Vernunft. Sie existiert und kann ebenfalls hohe Grade der Inanspruchnahme verzeichnen (gemessen an den Strafverfahren und der vermuteten Dunkelziffer). Ihre Grundlage ist die Ausbeutung und der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ähnliches lässt sich über die Menschenverachtung rechtsradikaler Milieus aussagen, die sich des Internets und vorrangig der kommerziellen Netze bedienen.

Auch für seine Hypothese, dass Politiker zwangsläufig die kommerziellen / dissozialen Netze nutzen müssten, um sich öffentlichkeitswirksam zu äußern, bleibt er die Beweise schuldig. Ja, ich mutmaße sogar, dass seine Erfahrungen mit der praktischen Politik gering sind. Oder dass er sie wegen ihrer Komplexität nicht versteht.

Parteien wie AfD und NPD setzen tatsächlich auf die Breitenwirkung des Internets und der kommerziellen Medien. Die Schlichtheit ihrer Parolen, insbesondere die propagierten Vorurteile, scheinen die idealen Stoffe für dissoziale Netze zu sein. Doch bereits bei einer konservativen Partei wie der CDU erweist sich dieses Rezept als zumindest in Teilen unzulänglich. Denn die Christdemokraten können mit ihren Mitgliedern und traditionellen Sympathisanten allein längst keine Wahlen mehr gewinnen. Sie sind auf den Zuspruch anderer Gruppen angewiesen. Nicht zuletzt das konservativ-liberale Bildungsbürgertum, das auch von den Grünen umworben wird, würde es übel nehmen, wenn in der „Agora des Netzes“, wie Trawny diesen virtuellen Ort nennt, die schlichten Varianten der politischen Botschaften verkündet würden, während auf anderen Foren (z.B. auf öffentlichen Veranstaltungen, die von Presse und Rundfunk oder Bürgerinitiativen veranstaltet werden) deutlich weniger holzschnittartig argumentiert werden kann. Eine solche Arbeitsteilung würde die Glaubwürdigkeit infrage stellen. Für andere Parteien mit am demokratischen Konsens orientierten programmatischen Aussagen gilt Ähnliches.

Politiker, die in den Verdacht geraten, Krämerseelen zu sein, weil sie ihren Wählern um des eigenen Vorteils willen unkritisch nach dem Munde reden, müssten nämlich peinlichst darauf achten, dass die jeweils von ihnen unterschiedlich angesprochenen Kreise auf keinen Fall bilateral miteinander kommunizieren. Denn dann bestünde die Gefahr der Entlarvung der eigentlichen Absichten. Folglich sind diese Netze keine integrativen Bestandteile der Medienwelt und der Gesellschaft, sondern eine besondere Art geschlossener Räume.

Trawny nimmt dennoch an, dass Politiker und politisch interessierte und engagierte Bürger irgendwann an Facebook, Whatsapp, Twitter, Google oder YouTube nicht vorbeikommen würden. Doch danach sieht es nicht aus. Möglich wäre, dass sich die Welt der digitalen Medien spaltet – und zwar analog der gesellschaftlichen Spaltung, unter Umständen mit anderen Vorzeichen. Wenn ich mich im Kreis meiner Bekannten, Kollegen und Freunde umschaue, entdecke ich niemanden, der die o.g. dissozialen Netze nutzt. Vermutlich bilden wir jene unangepasste Minderheit von ca. zwanzig Prozent der Bevölkerung. Statt auf den von Internetdesperados im Tausch gegen unsere Privatsphäre zur Verfügung gestellten Foren zu kommunizieren, senden wir uns eifrig E-Mails zu (Verbindungen mit hohen Sicherheitsstandards), bloggen bei Zeitungen und Initiativen, telefonieren und treffen uns bei Literaturlesungen, im Theater und bei politischen Veranstaltungen. Wir haben keine Angst vor der Öffentlichkeit. Vielmehr sind wir davon überzeugt, einem ihrer wesentlichen Teile anzugehören, möglicherweise sogar ihrer Avantgarde.

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Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur im ehemaligen RIAS-Gebäude in Berlin
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