Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Einerseits sind die Israeli in diesen Tagen und Wochen begreiflicherweise in erster Linie mit allem beschäftigt, was direkt oder indirekt mit den bevorstehenden Knessetwahlen zu tun hat: mit Meinungsumfragen, Angriffen und Gegenangriffen von Kandidaten, und, bildlich über allem thronend, mit neuesten Enthüllungen und Spekulationen rund um Premier Binyamin Netanyahu und die gegen ihn erhobenen Korruptionsverdächtigungen.
Hier scheinen dem Erfindergeist und Spürsinn der israelischen Medien und des Publikums keine Grenzen gesetzt zu sein. Das geht inzwischen so weit, dass die Vox populi und die politisierten Meinungsmacher beinahe zu vergessen scheinen, dass es neben dem Urnengang vom 9. April und den möglichen Folgen dieses Anlasses für Volk und Land noch zahllose Entwicklungen und Stagnationen in Israel gibt, die zwar mit den Wahlen wenig zu tun haben, die aber einschneidende Konsequenzen für den Staat haben können.
Eskalierende Sicherheitslage
An erster Stelle muss hier die sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen wieder einmal eskalierende Sicherheitslage genannt werden. In der Westbank spricht der Autoramm-Anschlag von Anfang der Woche – zwei IDF-Leute wurden teils schwer verletzt, während zwei palästinensische mutmassliche Angreifer von der Armee erschossen wurden und ein dritter Verletzungen erlitten hat – dafür, dass die Beruhigungsversuche Jerusalems, ergänzt durch ähnliche Aktivitäten Ägyptens, vorerst erfolglos verpuffen. Hinzu kommen wiederholte Angriffe mit Brandbomben auf die hart an der «grünen Linie» (manchmal auch jenseits von ihr) verlaufenden Autostrasse 443 von Jerusalem in die Küstenebene. Die israelischen Ortschaften entlang der Grenze zum Gazastreifen wiederum leiden erneut unter der stetig steigenden Anzahl der gefährlichen Feuerballone, die palästinensische Terroristen immer wieder über den Grenzzaun hinweg in Richtung Israel lancieren. Eine Begleitmusik voller Dissonanzen, die Israels politische Führung gerade in den Wochen vor den Knessetwahlen weniger denn je brauchen kann. Dass andererseits die wachsende Unruhe, verbunden mit einer nicht unter Kontrolle zu bringenden terroristischen Gewalttätigkeit, Wasser auf die Mühle israelischer Rechtsextremisten bedeuten kann, sei hier nur am Rande erwähnt.
Weniger Gelder aus den USA
Die Eskalation ist nach Ansicht israelischer Experten vor allem auf die Kürzung der amerikanischen Hilfe für die Palästinenser zurückzuführen, aber auch auf die israelische Entscheidung, rund eine halbe Milliarde Schekel von den für die Gebiete bestimmten, von Israel einkassierten Steuergeldern zu kürzen, weil die Palästinensische Behörde diesen Betrag den Familien von toten oder gefangenen Terroristen zukommen lässt.
Die Spannungen steigen aber auch in den Gefängnissen Israels, in denen palästinensische Sicherheitsgefangene einsitzen. Laut «Haaretz» hat Gilad Erdan, Minister für öffentliche Sicherheit, in den Zellen der Palästinenser Vorrichtungen installieren lassen, welche das Führen von Gesprächen auf hineingeschmuggelten Mobiltelefonen erschwert bis verunmöglicht. Erdan bezeichnete diesen Schritt als «nötig», auch wenn er in der Vergangenheit zu gewalttätigen Konfrontationen mit Insassen geführt hat.
Nächtliche Protestaktionen
Für Armeekreise ist jeder Tag, der in der Westbank ohne grössere Eskalation vorbeigeht, ein Glücksfall. Im Gazastreifen wiederum hängt viel vom Schaden ab, den die Palästinenser bei nächtlichen Protestaktionen gegen IDF-Soldaten schleudern. Blutvergiessen könnte Israel zu einer heftigeren Reaktion veranlassen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die IDF die Intensität ihrer Reaktionen schon verschärft haben. Nachdem Soldaten mit Bomben beworfen wurden, gehören zu diesen Reaktionen jetzt auch der Einsatz von Tanks gegen Hamas-Positionen. In der Nacht auf den Mittwoch griff die israelische Luftwaffe wieder diverse Ziele der Hamas im Gazastreifen an. Für Amos Harel, den Militärkorrespondenten von «Haaretz», sind die Komponenten für eine Eskalation in den Gebieten noch vor den Wahlen offensichtlich: «Die israelische Regierung würde es wahrscheinlich vorziehen, einer echten Konfrontation aus dem Wege zu gehen.
Eine solche könnte sich in jede Richtung entwickeln und dabei sogar den Ausgang der Knessetwahlen beeinflussen. Die Angst aber, den Palästinensern gegenüber als schwach zu erscheinen, könnte die Regierung veranlassen, die Dinge eskalieren zu lassen. Auf der palästinensischen Seite wiederum gibt es Kreise, die die Situation als eine verführerische Gelegenheit ansehen, um Netanyahu mit dem Rücken an die Wand zu drängen.» Nehmen wir die gegenwärtige Hochspannung zwischen Israeli und Palästinensern zum Massstab, ähnelt die Lage einer Situation, in der beide Seiten letztlich nur verlieren können. Eine solche Situation ist deswegen brandgefährlich, weil das extrem labile Gleichgewicht Freund wie Feind den Weg versperrt zu Lösungen, die auf den ersten Blick als die einzige Variante für die Vermeidung von Katastrophen erscheinen: das Eingehen von Kompromissen. Berücksichtigen wir noch die herannahenden israelischen Wahlen, dann kommen politische Überlegungen hinzu, welche die Handlungsfreiheit der auf Wahlstimmen angewiesenen Entscheidungsträger arg einschränkt. So gesehen dürfte es den Palästinensern schwerfallen, nicht von der verlockenden Möglichkeit Gebrauch zu machen, den Israeli ihren Wahlrummel gehörig zu stören.
Foto:
Zwischen Palästinensern und Israeli herrscht gegenwärtig Hochspannung – auf dem Bild zu sehen ist ein palästinensischer Demonstrant
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8.März 2019
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Zwischen Palästinensern und Israeli herrscht gegenwärtig Hochspannung – auf dem Bild zu sehen ist ein palästinensischer Demonstrant
© tachles
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8.März 2019