Bildschirmfoto 2019 03 23 um 03.14.16Erinnerungen an den Auschwitz-Prozess im Bürgerhaus Gallus Frankfurt, Teil 4

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso)- Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass 2004 bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als 200 000 Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen war groß und eine Woge des Mitleids ging rund um den Globus. In Auschwitz wurden fünfmal so viel Menschen vorsätzlich getötet – getötet von Angehörigen eines Kulturvolkes in der Mitte Europas, die hinterher nicht wahr haben wollten, wozu sie bereit waren.

Auszug aus meinem Bericht über den Auschwitz-Prozess vom 31. Mai 1964: Obwohl in den vergangenen Monaten bereits wiederholt schier unbegreifliche Dinge zur Sprache gekommen sind, scheint dem Grauen keine Grenze gesetzt zu sein. Die jetzt in Mexiko lebende Zeugin Dunja Wasserstrom schilderte, sie habe vom Fenster der Schreibstube der Politischen Abteilung aus die Ankunft eines Kindertransportes beobachtet. Als der Wagen hielt, sei ein kleiner Junge herunter gesprungen, der einen Apfel in der Hand gehalten habe. Boger (damals SS-Oberscharführer in der Politischen Abteilung) habe sich auf das Kind gestürzt und mit dem Kopf an die nächste Wand geschleudert. Der Apfel sei über den Boden gerollt und Boger habe ihn aufgehoben. Später, so berichtete die Zeugin, die als Dolmetscherin und Schreibkraft eingesetzt war, habe sie für Boger etwas schreiben müssen. Boger habe sich lässig auf die Schreibtischkante gesetzt und aus der Tasche jenen Apfel hervorgeholt, den er kurz vorher aufgehoben hatte. Mit sichtlichem Vergnügen habe er ihn verspeist.

Aus meinem Bericht vom 31. August 1964: Dass in Auschwitz nicht nur fabrikmäßig gemordet wurde, sondern auch zahlreiche „individuelle“ Verbrechen begangen wurden, bestätigte die Aussage des Zeugen Simon Gotland. Während ein neu angekommener Transport auf der Rampe ausgeladen worden sei, habe eine Frau gerade ein Kind zur Welt gebracht. Der Zeuge, der als Häftling die Waggons mit entladen musste, sei gerade dazu gekommen und habe das Neugeborene in Kleidungsstücke gewickelt. Plötzlich sei der Angeklagte Baretzki aufgetaucht und habe geschrien: „Was spielst du mit dem Dreck!“ Das Kind sei auf den Boden gefallen und Baretzki habe es wie einen Fußball fort geschleudert. Der Zeuge nach einer Pause: „Da war das Kind tot.“ Ob er das beschwören könne, fragte der Vorsitzende. Ja, das könne er reinen Herzens, und gedankenverloren fügte er hinzu: „Vielleicht waren sie krank, als sie das taten...“

Aus meinem Bericht vom 31. Oktober 1964: Zu einem erschütternden Höhepunkt gestaltete sich die Einvernahme des Zeugen Farber aus der Tschechoslowakei. „An einem Herbsttag 1943 sah ich morgens sehr früh im Hof von Block 11ein kleines Mädchen. Es war ganz allein. Es hatte ein rotes Kleidchen an, die Händchen hielt es an der Seite wie in Soldat. Es schaute ab und zu an sich herunter und wischte sich den Staub von den Schuhen. Dann stand es wieder ganz still. Kurz darauf kam Boger in den Hof. Er nahm das Kind an der Hand und stellte es mit dem Gesicht an die Schwarze Wand. Boger ging zurück. Das Kind schaute sich noch einmal um, und Boger drehte ihm den Kopf wieder gegen die Wand. Dann erschoss er das Kind mit seinem Gewehr. Die Leichenträger erzählten mir später, dass auch ein Kind polnischer Eltern kurz vorher im selben Hof erschossen worden war.“

Während seiner Aussage blickte Farber häufig zu dem Angeklagten Dylewski. “Ich möchte da noch eine Geschichte von Block 11 erzählen“, hob Farber dann an. Er habe im Gerichtssaal noch einen SS-Mann wiedererkannt. Der ehemalige Häftling berichtete, er habe gesehen, wie eines Tages eine vierköpfige Familie in den Hof von Block 11 gebracht wurde. Es habe sich um einen etwa 35jährigen Mann gehandelt, der einen Jungen an der Hand hielt, und um eine jüngere Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trug. „Dann kam ein SS-Mann und schoss sofort dem Kind, das die Mutter auf dem Arm trug, in den Kopf. Die Mutter fiel mit dem Kind zu Boden. Er erschoss dann die Mutter, den Mann und auch den Jungen. Hier sehe ich den SS-Mann wieder.“ Mit ausgestrecktem Arm zeigte Farber auf den Angeklagten Dylewski.

Foto:
Die Eisenbahnrampe in Auschwitz nach der Ankunft eines Transports und der Aussonderung der Opfer nach Arbeitsfähigen (rechte Reihe) und nicht Arbeitsfähigen (links), deren Weg von dort aus direkt in den Tod führte. Entnommen dem Bildband „Der gelbe Stern“, Rütten & Loening, Hamburg 1960.