YouTube, Facebook & Co inszenieren Demonstrationen gegen die Urheberrechtsreform
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Rettet das freie Internet“ lautet das Motto einer europaweiten Protestbewegung gegen die Verschärfung des EU-Urheberrechts.
Welches freie Internet? Das wird sich der sachkundige Beobachter fragen. Gemeint sind ganz offensichtlich kommerzielle Portale wie YouTube, Facebook, Whatsapp, Google & Co. Die von deren Betreibern bewusst inszenierte Umsonst-Mentalität soll eine vermeintliche Freiheit propagieren und dadurch verschleiern, dass auf anderen Wegen dauerhaft abkassiert wird – vor allem durch die Erhebung persönlicher Daten und deren Verkauf. Bezeichnenderweise wird denen, deren geistiges Eigentum ungefragt ins Netz gestellt wird, kein Cent gezahlt. Das Internet erinnert hinsichtlich Datenschutz und Urheberrecht an eine feudalistische Sklavenhaltergesellschaft. Die beschworene Freiheit ist ausschließlich die Freiheit der Profiteure. Wie realitätsfern, wie ungebildet und wie korrumpiert muss man sein, um den Parolen der Internetgiganten zu folgen und für sie auf die Straße zu gehen?
Bezeichnenderweise schloss sich auch „die freie Enzyklopädie“ Wikipedia diesen Aktionen an. Aus Protest gegen die Urheberrechtsreform blieb sie am 21. März offline. Als nichtkommerzielle Plattform wäre sie gar nicht betroffen. Andererseits ist bekannt:
Wikipedia-Autoren kopieren fleißig und kümmern sich selten um die Einholung von Urheberrechten. Die Redaktion der Frankfurter Literaturinitiative PRO LESEN e.V. hat vor zwei Jahren Wikipedia-Einträge mit Artikeln in geisteswissenschaftlichen Lexika verglichen. Allein in den Bereichen Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Theologie ließ sich feststellen, dass Beiträge aus den führenden Fachlexika „Killys Literaturlexikon“, „Kindlers Literatur-Lexikon“ und „Religion in Geschichte und Gegenwart“ wortwörtlich abgeschrieben worden waren. Offenbar, um nicht sofort aufzufallen, haben einige Kopisten leicht umformuliert und/oder wichtige Absätze des Originals nicht übernommen. Das führte vielfach zu einer in Teilen falschen Darstellung. Deswegen kann Wikipedia allenfalls als zusätzliche Quelle herangezogen werden. Dies ist vor allem im Schulunterricht zu berücksichtigen.
Und diese Feststellungen führen zu einer zentralen Frage unseres Bildungssystems im Zeitalter der Digitalisierung. Denn am Erlernen von Grundlagen führt kein Weg vorbei. Ob dies mit Hilfe von analogen oder digitalen Medien erfolgt, ist letztlich unerheblich. Eines hingegen ist klar: Es ist höchste Zeit, die Medienpädagogik in den allgemeinbildenden Schulen als wissenschaftliches Fach zu verankern, gleichbedeutend mit Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen.
Dieser Schritt müsste mit der Neubetonung eines anderen korrelieren. Nämlich mit dem Erlernen der Kulturtechniken des verstehenden Lesens und des logischen Schreibens. Hierzu gehören auch Motorik und regelmäßige Anwendung der Handschrift im Unterricht der Grundschule. Letztere fördern die kognitive Entwicklung und sind Voraussetzungen für die Bildung des Abstraktionsvermögens. Denn das menschliche Gehirn muss an Abstraktionsprozesse gewöhnt werden; beim Gebrauch der Handschrift werden allein 12 Gehirnareale parallel aktiviert.
Die Vernachlässigung der Fertigkeiten, die mit der Handschrift verbunden sind, haben Auswirkungen auf das logische Denkvermögen, das intuitive Begreifen von Zusammenhängen und auf das Erinnerungsvermögen. Reduziert sich die Verwendung von Buchstaben auf deren bloßes Antippen, wie es bei Smartphones die Regel ist, werden deutlich weniger potentiell vorhandene Gehirnressourcen aktiviert. Der Neurologe und Psychiater Manfred Spitzer hat die Ergebnisse entsprechender Studien in mehreren Büchern zusammengefasst.
Wer das verstehende Lesen nicht verlernt hat und sich regelmäßig über die Diskussionen zu den verschiedenen Aspekte des Netzes informiert (in analogen oder digitalen Medien), kennt längst die eigentlichen Fragestellungen über die Zukunft der digitalen Kommunikation. Um Informations- und Pressefreiheit, Datenschutz sowie das Urheberrecht zu sichern, bedarf es Strukturen wie beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk inklusive einer Gebührenordnung. Die Geschäftsmodelle der Internetgiganten würden dann nicht mehr tragfähig sein. Aber daran ginge die Welt nicht unter – ganz im Gegenteil.
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Aufruf zur Demonstration gegen das EU-Urheberrechtsgesetz in Frankfurt
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