p grundgesetzÜber den 8. Mai, Kevin Kühnert und den 70. Geburtstag des Grundgesetzes

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Kein Land und kein Mensch sollte seine Wurzeln vergessen. Die Wurzeln unseres Landes reichen zurück in den blutgetränkten Sumpf des Nationalsozialismus. Mit keinem anderen Regime haben sich die Deutschen in ihrer Mehrheit so verbunden gefühlt, wie mit dem Naziregime. Es bediente wie kein anderes den von Staat und Kirche andressierten Hass auf Juden, Marxisten und Intellektuelle.

Anders als manche es hinstellen, warfen sich keineswegs nur die deutschen Spießbürger Hitler heißen Herzens an den Hals, sondern auch die reaktionären Eliten in der Justiz, an den Universitäten und in der Wirtschaft. Deshalb taten sich viele so schwer mit dem kläglichen Ende dieses Regimes. Sie empfanden den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung sondern als Tag der Schmach. 40 Jahre dauerte es, ehe Bundespräsident Richard von Weizsäcker aussprach, was vor ihm kein einziger Bundespräsident auszusprechen gewagt hatte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Um diese Zeit waren die Mitschuldigen an den Naziverbrechen längst wieder aus den Mauselöchern gekrochen, in denen sie sich anfangs versteckt hatten. Längst war vergessen, welches Fazit die CDU 1947 in ihrem Ahlener Programm gezogen hatte: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.“

Wenn heute einer wie Kevin Kühnert Ähnliches fordert, wird er von einem vielstimmigen Chor hysterischer Verteidiger des christlichen Abendlandes niedergebrüllt, angeführt von der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Die war sich nicht zu schade, auf eines der Totschlagargumente zurückzugreifen, mit denen die CDU 1976 ihren Wahlkampf bestritt. „Ich hätte nie geglaubt“, höhnte sie, „dass unser alter Wahlslogan ‚Freiheit statt Sozialismus’ noch mal bei einer Wahl so aktuell werden wird.“ Damit sollte die SPD niedergemacht und Helmut Schmidt aus dem Kanzleramt vertrieben werden. Da fehlt jetzt nur noch das der Nazipropaganda entliehene CDU-Wahlplakat aus dem Jahr 1953 mit der Aufschrift „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“ Das richtete sich gegen die SPD und nicht etwa gegen die Kommunistische Partei Deutschlands, die bereits unter Verbotsdrohung stand.

Dass unter den Kritikern des Vorsitzenden der Jungsozialisten auch führende Sozialdemokraten sind, kennzeichnet den Niedergang einer Partei, in deren Programm es immer noch heißt: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien und solidarischen Gesellschaft“. Aber mit diesem Programm verhält es sich so, wie mit dem Grundgesetz, dessen 70jähriges Bestehen in diesem Monat gefeiert wird, es liest sich gut, und Kevin Kühnert kann sich jederzeit darauf berufen. Dort heißt es unter dem Stichwort „Sozialisierung“ in Artikel 15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Im Grundgesetz stehen viele schöne Sachen. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, postuliert zum Beispiel der Artikel 3. Seit 70 Jahren steht das dort, aber Frauen verdienen in Deutschland immer noch 21 Prozent weniger als Männer, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden errechnet hat. In Artikel 5, der die Meinungs- und Pressefreiheit garantiert, heißt es: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Das könnte eigentlich gestrichen werden. Es gibt so etwas wie Selbstzensur, die bei den meisten Journalisten hervorragend funktioniert, sei es aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder weil sie so etwas wie Haltung nie kennen gelernt haben. Den Rest besorgt der Verfassungsschutz, dessen Mitarbeiter ständig die Texte kritischer Autoren durchschnüffeln auf der Suche nach einem Satz, aus dem sie dem Betroffenen einen Strick drehen können.

Das Bekenntnis zum Schwur von Buchenwald, in dem die befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers die Ausrottung des Faschismus mit seinen Wurzeln geloben, wird dann schon mal als Zeichen linksextremistischer Gesinnung und versteckter Aufruf zum Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gedeutet. Im nächsten Verfassungsbericht findet sich der Betreffende oder gar eine ganze Organisation dann am Pranger. 40 Jahre lang musste ein Bremer Rechtsanwalt wegen seines bürgerrechtlichen Engagements diese Überwachung ertragen, ehe dem Verfassungsschutz die Nägel gestutzt wurden. Nicht jeder besitzt dafür den nötigen langen Atem. Kevin Kühnert wird seine aufgeregten Kritiker überleben. Er hat einen Nerv getroffen.

Foto:
© bundestag.de