Überlegungen zur Situation in Israel
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Während diese Woche in Israel Raketen aufschlugen, muss sich Binyamin Netanyahu der Schwierigkeit stellen, dass er in einer Konfrontation mit der Hamas nur verlieren kann.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: In einem knapp 48-stündigen Waffengang zwischen Israel und Hamas sowie Islamischem Jihad aus dem Gazastreifen feuerten palästinensische Terroristen Anfang Woche 698 Raketen gegen Israel ab. 240 Mal trat das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome erfolgreich in Aktion. Auf der Soll-Seite dieser Milchmädchenrechnung stehen vier israelische Tote, 234 teils schwer Verwundete sowie 350 IDF-Angriffe auf Terrorziele im Gazastreifen. Die Palästinenser vermeldeten auf ihrer Seite 30 Opfer und 154 Verletzte.
Für Außenstehende – und das sind die meisten, wenn es um die Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen mit israelischer Beteiligung geht – erscheinen die wiederkehrenden Konfrontationen zwischen Israel und den palästinensischen Terrorverbänden wie immer «vertrauter» werdende Abläufe. Umso deutlicher lassen sich jedes Mal auch die Fragen nach dem Zweck solchen Unterfangens vernehmen, oder viel eher nach dem richtigen beziehungsweise falschen Zeitpunkt für dessen militärische Beendigung. Und immer wieder bekommen die Außenstehenden von den politischen Entscheidungsträgern bis hinauf zu den ranghöchsten Mitgliedern der israelischen Regierung gleichlautende, an den Feind gerichtete düstere Warnungen zu hören: Die Waffen würden jetzt zwar ruhen, doch die IDF-Truppen würden in Bereitschaft verweilen und könnten im Bedarfsfall jederzeit wieder losschlagen. Und mit jedem Mal vermögen diese Versicherungen der Politiker die Massen weniger zu überzeugen, abgesehen natürlich von den eingefleischten Parteimitgliedern der gerade herrschenden Koalition. Bei diesen haben die politischen wie auch die militärisch-strategischen Entscheidungsträger sowieso stets recht. Irgendwann gibt es ja immer wieder Wahlen, und da will sich kaum einer durch allzu offene Kritik frühzeitig negativ exponieren.
Nicht Trumps erste Priorität
Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: Vermutlich stimmt es sogar, dass die aufgebotenen IDF-Truppen jederzeit losschlagen können, und wahrscheinlich werden sie die Übung beziehungsweise die nächste, übernächste und so weiter auch siegreich gestalten können. Die Gretchenfrage verlegt vielmehr die Diskussion auf eine ganz andere Ebene, denn diese Frage lautet undiplomatisch simpel: Und was dann? Wie lange wird sich Israel auf die blinde Unterstützung von – heute zumindest bedingungslosen – Alliierten wie etwa den USA verlassen können? So «angenehm» sich die derzeitige Situation mit Washington für Jerusalem auch anfühlen mag: Im Endeffekt werden sich wohl auch subalterne Angehörige der israelischen Entscheidungspyramide des Umstandes bewusst sein, dass auch für einen Donald Trump nicht das Wohlergehen Israels entscheidend sein wird, sondern die eigene politische Position. Und damit auch die Abwägung von Für und Wider etwaiger amerikanischer Beschlüsse für den gesamten nahöstlichen Themenkomplex, eingeschlossen die Auswirkungen solcher Beschlüsse für den politischen, militärischen und gesellschaftlichen Standort Israels. Wie lange kann Trump oder ein möglicher Nachfolger es sich erlauben, die Auswirkungen ur-amerikanischer Beschlüsse direkt oder auch nur indirekt noch von der Berücksichtigung der Komponente Israel ganz oder partiell abhängig zu machen?
Gar nicht so abwegig
Gehen wir kurz auf Distanz zur Tagesaktualität und machen ein paar Schritte rückwärts. Immer häufiger ist in der Gesellschaft Israels, und beileibe nicht nur in deren Zentrum oder auf deren Linken, zu hören, die heutige Führung mit Binyamin Netanyahu an der Spitze sei auf eine starke Hamas-Bewegung angewiesen. So widersinnig diese Behauptung auf den ersten Blick erscheinen mag, so ist sie aus der Perspektive der heutigen rechtsnationalen Spitze des Staates recht realistisch. Diese zählt in ihren Konzepten wahrscheinlich nicht aus Sympathie zur Hamas auf deren mittel- und langfristiges politisches Überleben. Vergleicht man aber die weitere Existenz der Hamas mit dem Jihad im Schlepptau zu anderen Alternativen, wird dem politischen Denker aus Netanyahus Umfeld rasch klar, dass diese Alternativen für den Likud und dessen Gefolgschaft politisch-ideologisch gar nicht tragbar wären.
Eine Alternative ohne die Hamas und Konsorten würde für Israel nämlich den Schulterschluss mit der heute von Mahmoud Abbas geleiteten Palästinensischen Behörde bedeuten. Das wiederum wäre gleichbedeutend mit einem Wiederaufleben der Zweistaatenlösung oder gar der Einstaatenlösung. Bei der heutigen innenpolitischen Konstellation Israels aber müsste man einsehen, dass es sowohl für die Zweistaaten- als auch für die Einstaatenlösung derzeit nur einen Platz gibt: im Tiefkühlfach der nahöstlichen Gegenwartsgeschichte.
Oder glaubt etwa irgendjemand in Israels näherer oder weiterer Umgebung an die praktische Durchführbarkeit einer der genannten Lösungsvarianten? Wohl kaum, denn dann würden wir sehr rasch wieder beim Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anlangen. Dieses wäre für die Entscheidungsträger in Ramallah ebenso ein politisches Minimum wie es für Jerusalem unter Netanyahu mehr als das Maximum wäre und damit ad acta gelegt werden müsste.
Der Zwangspartner
Langsam nähern wir uns einer Schlussfolgerung. So abwegig, wie es anfangs ausgesehen haben mag, dürfte es letzten Endes gar nicht sein, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass Netanyahu und sein Team aus den genannten Gründen tatsächlich auf einen starken Hamas-Erzfeind als Partner – mit oder ohne Anführungszeichen – baut. Nur so kann er sich nämlich vorsätzlich eine Zukunft verbauen, in der er eines schrecklichen Tages vor vollendeten Tatsachen stehen würde, den Palästinenserstaat nicht nur mit Hunderten Wenn und Aber akzeptieren, sondern ihn voll anerkennen zu müssen.
Trotz zahlloser militärischer Niederlagen ist die Hamas ihrem Grundprinzip der Nichtanerkennung Israels als Staat treu geblieben und wird es wohl auf lange Zeit auch bleiben. Vor allem wenn Alliierte wie Katar dem fast zu Ruinen bombardierten Gazastreifen den Wiederaufbau finanziell fürstlich versüssen. Das nächste Mal wird das Emirat nicht, wie jetzt, mit fast einer halben Milliarde Dollar locken, sondern mit dem Zwei- und Dreifachen dieses Betrags. Ausschlaggebend bleibt, dass Israel nach jeder weiteren militärischen Konfrontation dieser finanziellen Aufrüstung durch die Hintertüre unverändert zähneknirschend, offiziell aber unhörbar sein Plazet geben wird. Zu solchen Konfrontationen dürfte es zwangsläufig immer wieder kommen, und sei es nur, um den rechtslastigen israel-internen Bevölkerungsteil zu beruhigen.
Der Preis ist fair, vor allem wenn Israel selbst gar nicht zur Kasse gebeten wird. Auf der anderen Seite der Gleichung steht nämlich die in immer weitere Ferne rückende Errichtung eines Palästinenserstaates und, nicht minder wichtig, die Ernennung Netanyahus zum unfreiwilligen Kriegshelden und nationalen Kaiser auf Lebzeiten.
Foto:
Ein beschädigtes Haus in der Stadt Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen nach einem Luftangriff der israelischen Streitkräft
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. Mai 2019