Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Vor ein paar Tagen wurde in Berlin eine neue Statistik über fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten vorgestellt. Danach lag die Zahl dieser Straftaten 2018 mit jeweils 1800 um knapp 20 Prozent über denen des Vorjahres. Bundesinnenminister Horst Seehofer kommentierte die neue Statistik mit den Worten, insbesondere die Entwicklung im Bereich Antisemitismus müsse „verdammt ernst“ genommen werden.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Münch, nannte den Anstieg von Gewalt- und Propagandadelikten im Bereich Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus „besorgniserregend“.
Für den Präsidenten des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, ergibt sich aus der Statistik, dass 2018 in Deutschland mehr als einmal pro Woche eine Gewalttat gegen Juden begangen wurde. Niemand dürfe vor dem ansteigenden Antisemitismus die Augen verschließen. Bei den Strafverfolgungsbehörden, der Justiz und in den Schulen gebe es, so Schuster, einen Nachholbedarf im Kampf gegen Antisemitismus.
Als Reaktion auf die jüngsten Zahlen teilte Bundesjustizministerin Katarina Barley mit, sie habe sich an die Justizminister der Länder gewandt, damit eine einheitliche Definition von Antisemitismus Teil der Richterausbildung werde. Da fragt man sich, aus welchem Mustopf Frau Barley eigentlich kommt. Wer immer noch nicht weiß, woran man Antisemitismus erkennt und welche Verbrechen auf sein Konto gehen, hat die Zeit verschlafen und anscheinend noch nie etwas von Auschwitz gehört. Allein deswegen ist er für den Richterberuf ungeeignet und hat in der Justiz nichts zu suchen.
Gehören etwa die alljährlichen Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht zur Pflichtlektüre angehender Richter und Staatsanwälte? Darin wird Antisemitismus als Ausdruck rechtsextremistischer Gesinnung gewertet, tendenziell aber eher verharmlost. Als Bundesinnenminister Hermann Höcherl 1962 den ersten Verfassungsschutzbericht vorlegte, sah die Frankfurter Allgemeine Zeitung darin eine Bestätigung, dass der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik schwach und als politische Ideologie ohne Anziehungskraft sei. „Der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland vereinsamt“, schrieb sie am 17. April 1962. Sechzehn Jahre danach sprach der Literaturkritiker Jürgen Busche von der „angeblichen Gefahr des Rechtsradikalismus“ und kam zu dem Schluss, dass es mit dem, was sich „in kümmerlichen deutschen Zirkeln zu braunem Selbstbewusstsein hochmurmelt“ offensichtlich nicht weit her sei. ( FAZ 19. Juni 1979).
Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß sah es als „unwiderlegbar bewiesen“ an, dass Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen vom sowjetischen KGB oder anderen kommunistischen Geheimdiensten veranlasst würden. (Deutschland-Magazin, Heft 8/1979).
Der Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, Hans Josef Horchem, behauptete Ende 1979, die neonazistischen Gruppen bildeten keine Gefahr für Demokratie und Staat, sondern seien „allenfalls Abfall des Zeitgeistes. Die geistigen Wegbereiter dessen, was sich in der Folgezeit bei uns breit gemacht hat, waren überall anzutreffen. Im Spiegel vom 17. Mai 1982 goss Christian Schulz-Gerstein Hohn und Spott über alle aus, die von rechts her Gefahren für die Demokratie heraufziehen sahen. Er fragte, was denn so gemeingefährlich sei an den „Standardparolen der Neonazis“, wonach weder in Auschwitz noch anderswo Juden vergast worden seien, dass ein Staatsanwalt sich aufgerufen fühle, gegen ihre Verbreitung einzuschreiten.
Die Renazifizierung des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik vollziehe sich lautlos und widerstandslos, erklärte 1959 (!) der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Heinz Galinski. Mehr oder weniger getarnt kehrten prominente Vertreter des Nationalsozialismus zurück, und die demokratischen Kräfte würden wie in der Weimarer Republik isoliert. Galinski forderte eine Reinigung der Justiz, des Schulwesens, der Industrie und der Politik von Personen, die sich während der NS-Herrschaft Verbrechen zuschulden kommen ließen. (FAZ 21. Februar 1959).
60 Jahre später, einen Tag bevor Bundesinnenminister Seehofer die neuen Zahlen über antisemitische Straftaten vorlegte, konstatierte der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt: „Die Shoa wie auch der Zweite Weltkrieg geraten in Vergessenheit“. Die Lage der Juden in Europa werde schwieriger. Europa sei dabei, zu vergessen, wie schrecklich die beiden Weltkriege gewesen seien, wie viele Millionen Europäer in Leben verloren hätten. Die bevorstehende Europawahl sei eine Schicksalswahl. (Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2019).
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