Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Würdigungen zum Anlass des Neunzigsten von Habermas vermittelten - auch wenn sie wissenschaftlich korrekt verfasst waren und sein Werk fachgerecht behandelten – insgesamt den Eindruck von Huldigung.
Kann Habermas damit gut leben - oder ging es ihm nicht viel mehr darum, etwas zur Überwindung des kniffligen Zustands der EU beizutragen? In der Euro-Zone ist eine desaströse Beziehungskiste im Gang. Der Neuzigste Geburtstag war ihm willkommen, um uns etwas sagen zu können, ohne den Zeigefinger zu erheben. Er redete derart feurig, dass er damit alles Huldigende beiseiteschob.
Seine Rede an der Frankfurter Universität kreiste um die Beziehung von Moralität und Sittlichkeit. Das war der Aufhänger. Die Sittlichkeit steht mehr auf der Seite der Norm, die Moralität handelt eher vom Sollen, sei dieses verfügt oder selbstgewählt. Habermas war aber nicht gekommen, Definitionen zu liefern.
Seine Rede an der Frankfurter Universität kreiste um die Beziehung von Moralität und Sittlichkeit. Das war der Aufhänger. Die Sittlichkeit steht mehr auf der Seite der Norm, die Moralität handelt eher vom Sollen, sei dieses verfügt oder selbstgewählt. Habermas war aber nicht gekommen, Definitionen zu liefern.
Die akademischen Texte müssen Transformationen eingehen, damit sie in der Wirklichkeit zur Wirkung kommen. Habermas hat kein wissenschaftliches Gebäude errichtet, auf das sich Generationen seiner Nachkommen einlassen und einschwören sollen, ohne am Werk weiterzudenken. Mit Huldigung wird die Sache in die Flucht geschlagen.
Habermas dehnt, komprimiert gesprochen, den Arbeitsbegriff auf die Kommunikation aus. Mit der hellsichtigen Schrift ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) - immer noch unvermindert aktuell und zwar mehr denn je - gelangt er auf die Appia der Demokratietheorie von lebenspraktischer Konsequenz. Hiermit soll vornehmlich „die Kraft des besseren Arguments“ zur Wirkung gelangen. Zwei Dezennien später wird ein systematisches Werk, die zweibändige „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), aus dem besagten Impuls der kommunikativen Kompetenz - mehr als nur ein Beitrag zu einer späteren Theorie der Moderne – aus der Taufe gehoben. Im Dialog mit Apel entwickelt Habermas eine eigene Art der Ethik nach Kant, die wir zu jener Zeit als inspirierende Diskursethik der emphatisch versammelten Öffentlichkeit der unruhigen Jahre wahrgenommen haben. Sein aufgenommenes Motiv war die der vorwärtsgewandten klassischen Überzeugung der Aufklärung, was den öffentlichen Gebrauch der Vernunft angeht, wie von ihm im Vortrag an der Universität Frankfurt am 19. Juni 2019 nochmal bestätigt.
Sein „Erkenntnis und Interesse“ (1963) kam auf der Grundlage des zuletzt genannten Werks dann erst voll zum Zug bei Studierenden, weil alle Erkenntnis auf spezifische Weise erst durch die Vermittlung durch das Interesse, das sich von seiner bürgerlichen oder sonstigen Beschränktheit löst, geweckt wird. Im Interesse am spezifischen Moment von Wahrheit wird „kritische Wissenschaft“ zur emanzipativen Kraft. Habermas hat mit seinen Beiträgen in den kleineren Schriften prägende Ansagen gemacht, die durch Begrifflichkeiten wie "Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus", „herrschaftsfreier Diskurs“, „nachmetaphysisches Denken“, und „neue Unübersichtlichkeit“ gekennzeichnet sind.
Mit „Faktizität und Geltung“ (1992) wird für jegliche Verhältnisse klar, dass es keine „illiberalen Demokratien“ geben kann. In den Fokus gerückt werden die „Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats“ und eine „transnationale Theorie der Demokratie und des Rechts“. Das richtet sich spätestens jetzt an Europa, mit seiner gerade ablaufenden „entgleisenden Säkularisierung“. Aber nur „die bessere Rechtfertigung“, nicht der bloße Wille von Mehrheiten, kann für das Werk Europa Pate stehen. Die Ungebildeten müssen die Wissenschaft anerkennen, nicht umgekehrt.
„Germans are floating between Kant and Hegel“ (Theorem US-amerikanischer Philosophie)
Habermas ergänzte diese Redeweise mit: ...und Marx. - Kant oder Hegel, Kant oder Marx, alle diese drei sind in einen Dialog zu versetzen, nicht einer alleine macht’s.
Kant kommt über die Allgemeinheit der Vernunft mit dem kategorischen Imperativ. „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Mit der Vernunftkritik durch den Denkenden - sein Thema - hält er die Vernunft vom Absoluten weg auf Distanz. Mit der Autonomie des Subjekts ist die vernunftgeleitete Selbstgesetzgebung durch Anstrengung möglich.
Für einen Hegel der bürgerlichen Industriegesellschaft war das Jenseits des Intelligiblen in die Historische Zeit und den Raum zu überführen. Das war gewaltsam gedacht mit der Vernunft in der Geschichte. Damit wechselt die Anstrengung des Subjekts in die Selbstbewegung des absoluten Geistes über, inkorporiert im preußischen Staat. Eine gewagte, wenn nicht totalitäre Anmaßung, die Rechtfertigungen Tür und Tor öffnet. Normative Sätze und Ordres leiten sich aus dem Willen der grenzenlosen Machbarkeit der Welt ab. Hiergegen – besonders gegen die rüde frühkapitalistische wirtschaftliche Mobilisierung - regen sich Romantik und Geisteswissenschaften, sie bewegen sich bis heute traversal zum Bestehenden. Damit wird Autonomie neu erfunden.
Mit der Verbürgerlichung und Ökonomisierung geht der soziale Zusammenhalt der vergehenden Alten Welt verloren. Die fortschrittlichen Bürgerrechtserklärungen wie das Wormser Konkordat, die Magna Charta libertatum und die Habeas Corpus Akte sind wohl bahnbrechend, bleiben aber zwiespältig. Werden unterlegene Klassen nicht immer unter der Hand außen vorgelassen? Auch die Moderne ist als naturwüchsig noch stets Natur, wenn auch nicht mehr rein naturgesetzlich. Mit der Emanation des absoluten Geistes in die raumzeitliche Welt ist es nicht gar weit her. Durch die reale Bedingtheit der Erklärung der Menschenrechte – weil als nicht konsequent universell angenommen – entsteht ein normatives Gefälle, das Kant überhaupt nicht gefallen hätte.
Mit der philosophischen Entworfenheit ist‘s vorbei
Hegels Konzeption einer gleichsam mechanisch abschnurrenden Vernunft in der Geschichte hat sich als obsolet herausgestellt, sie kommt einer Re-transzendentalisierung bedenklich nahe. Aber: die öffentliche Gesetzgebung kann unbestechlich sein, indem sie Theorien rekonstruierend in einen zwanglosen Prozess der Findung des besseren Arguments versetzt, die mögliche Fehlbarkeit des eingeworfenen Arguments immer mit bedenkend. Die Menschheit nahm die politische Herrschaft, den Akt der Verfassungsgründung, die Gründung von Institutionen in eigene Hände, in der Sukzession der selbstbestimmten Handlungsweisen freier, vernunftgeleiteter Individuen.
Zugehörig Fühlen
Damit setzte es im Vortrag erst richtig mit dem EU-Komplex ein. Eine der ganz entscheidenden Voraussetzungen für das Gelingen der EU sind die neuerlichen kulturellen Lebensformen der ausgeweiteten Lebenswelt. Das Private reklamiert mehr noch das Politische, das Politische kann sich dem Privaten noch weniger verschließen. Bürgerrechte sind Individualrechte. Begonnen hat es mit den sozialen Klassenkämpfen, die Marx zu einem in ganz Europa Umgetriebenen machten. Marx war kein politischer Philosoph und schon gar kein Politiker. Viel an Fatalismus macht sich in seinen Schriften bemerkbar. Er hat sich in die politische Ökonomie geflüchtet und damit so wie nebenbei ein beachtliches Werk im Lampenlicht des Privaten gezeugt. Es ist das Werk eines Meisterdenkers. Reizvoll an diesem Werk wurde für die 68er-Jugend das, was bei Adorno dann der ‚technologische Schleier‘ hieß, die Verschleierung der Naturwüchsigkeit des Kapitalprozesses. Die Individuen werden vexiert und an der Nase herumgeführt.
Wir sehen heute, wie der freie Fluss der Öffentlichkeit, trotz aller Möglichkeiten, gerinnt und in Schieflage kommt. Ideologiekritik ist nötiger denn je. Es existieren also Schranken im Raum der Gründe, Autonomie droht zu zerrinnen. Aber sie hält sich im Mangel doch. Die Aufgabe der Politik ist zwar Krisenvermeidung und Erhaltung des sozialen Zusammenhalts, hinreichend repräsentative Anteile Europas müssen aber die Möglichkeit haben, Initiativrechte gemeinwohlorientiert wahrzunehmen. Neuen Milieus und vielfältigen Lebensformen, auch Minderheitskulturen muss die Politik eine Ergiebigkeit zumessen, sofern sie dem Gemeinwohl und dem Menschenrecht nicht zuwiderlaufen. Inklusion ist eines jener programmatischen Stichworte. Das Menschenrecht muss für jede Kreatur gelten.
Wendung zur Konstruktion
Sozialkulturelle Grundbedürfnisse sollten gesichert sein, sonst droht Barbarei. Solidarität ist ein grundlegendes Erfordernis. Die kapitalistischen Krisen zeigen an, dass die menschliche Natur bei weitem noch nicht verwirklicht ist. Die Friktionen, Entkopplungen, krasse Disharmonien, gar Dämonien, müssen die europäischen Völker lösen und ausräumen. Wirtschaftsnationale Beschränkung muss überwunden werden, ebenso eingefahrenes, engstirniges nationales Bewusstsein; gemeinsame Wurzeln sind noch immer erkennbar, aber teilweise vergessen. Die große Vergangenheit der Gedanken und Künste teilt sich auch in der sehr ausdifferenzierten Gegenwartskultur, die quer zur Politik steht, mit. Der alte Maulwurf der Vernunft (bei Hegel und Marx die wirkende Konstante) ist in der Lage, Superwahngebilde aufzulösen. Wie gesagt: es muss alles aus dem vernünftigen Argument entwickelt werden. Habermas beschließt seinen Vortrag: Sozialforschung glich am Anfang der Fünfziger einer belagerten Festung. Erst in der zweiten Hälfte wurde Adorno zu dem der er geworden ist.
Postskriptum: Europa wäre am grandiosesten gedient, wenn das Schienennetz kreuz und quer zusammengeführt und aufeinander abgestimmt würde und damit auch der Luftverkehr reduziert.
Info:
Jürgen Habermas sprach im Hörsaalzentrum auf dem Campus Westend der Universität zu Frankfurt am Main: ‚Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit‘, Mittwoch, 19. Juni 2019.
Im Herbst erscheint von Jürgen Habermas das 1700seitige Opus ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘ und ‚Europa als Union seiner Bürger: Eine demokratische Vision‘.
Foto © Heinz Markert
(Habermas auf dem Monitorbild in einem der zusätzlichen Säle, in die übertragen wurde)