Joachim Gauck predigt erneut das Hohe Lied der Anpassung
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Als Pfarrer in der DDR hat er die Instrumentalisierung der Kirche durch den Staat hingenommen.
Möglicherweise zähneknirschend - und sich dabei vermutlich auf Luthers theologisch und politisch verhängnisvolle „Zwei Reiche-Lehre“ berufend. Angesichts der Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland plädiert er jetzt für eine „Erweiterung der Toleranz ins rechte Lager hinein“. Nicht jeder, „der schwer konservativ“ sei, stelle eine Gefahr für die Demokratie dar. Es sei nicht angemessen, solche Menschen „aus dem demokratischen Spiel hinauszudrängen“. Vielmehr müsse zwischen rechts im Sinne von konservativ und rechtsextremistisch oder rechtsradikal unterschieden werden. Das gelte insbesondere für Bürger, für welche Sicherheit und gesellschaftliche Konformität wichtiger seien als Freiheit, Offenheit und Pluralität. Seit die CDU sozialdemokratischer geworden sei, wären diese heimatlos geworden.
Der ehemalige Bundespräsident predigt nicht zum ersten Mal das Hohe Lied der Anpassung.
Joachim Gauck war von 1982 bis 1990 Kirchentagsbeauftragter der Evangelischen Landeskirche Mecklenburgs und Mitorganisator des vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR veranstalteten Kirchentags 1988 in Rostock. Kritiker warfen ihm vor, damals einen „Kirchentag von unten“ verhindert zu haben. Hierbei sei er entsprechenden Aufforderungen des Staats bereitwillig gefolgt. Die politische Klasse der DDR wollte unbedingt verhindern, dass sich Vorgänge wie auf dem Kirchentag der Evangelischen Landeskirche von Berlin-Brandenburg 1987 wiederholten. In jenen Tagen hatten sich wenige Hundert junge Leute in der Friedrichshainer Pfingstgemeinde am Rande des offiziellen Kirchentagsgeländes getroffen und lautstark einen „Kirchentag von unten“ gefordert. Sie hätten sich gebärdet „wie weiland die 68er-Generation in der Bundesrepublik und wollten beweisen, dass sie mündig seien, dass sie keine Gängelei von oben mehr ertragen würden, dass sie eigenverantwortlich handeln wollten und könnten“ – beschrieb die „Frankfurter Rundschau“ die angespannte Situation im Juni 1987. Pfarrer Gauck als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses der Landeskirche erhielt vor diesem Hintergrund eine Schlüsselaufgabe. Es galt, einen auf christlicher Innigkeit fußenden unpolitischen Kirchentag im Sinne der Kirchenleitung durchzuführen und dabei sämtliche möglichen Konflikte mit dem SED-Regime zu vermeiden.
Einer der Nichtangepassten, die durch die Reglementierungen von Kirchenleitung und Staatsmacht in Bedrängnis gerieten, war der ehemalige Güstrower Pfarrer Heiko Lietz, der später im Neuen Forum aktiv war und einige Jahre „Bündnis 90/Die Grünen“ angehörte. „Ich bin während des Kirchentages in meinen Möglichkeiten, mich zu entfalten, massiv eingeschränkt worden“ bekannte er 2012 gegenüber der Wochenzeitung „Der Freitag“.
Joachim Gauck und Heiko Lietz kannten sich aus Schulzeit und Studium. Enge Freunde waren sie nie geworden, verloren sich aber bis Gaucks Umzug nach Berlin 1990 nie aus den Augen. Lietz, Jahrgang 1943, war bereits 1981 auf staatlichen Druck hin aus dem Kirchendienst entlassen worden. Er gehörte zu den Gründern des DDR-weiten Netzwerkes der Friedensgruppen „Frieden konkret“. Rückblickend nannte Lietz den Rostocker Kirchentag eine vertane Chance. Über Gauck sagte er: „Ich hatte auch nie die Erwartung, dass Jochen Gauck jemand ist, mit dem ich mich gemeinsam auf den konfliktreichen Weg in eine bessere Gesellschaft machen kann.“
Die DDR-Behörden, namentlich das Ministerium für Staatssicherheit, hatten bereits im April 1983 Kontakt zu Gauck aufgenommen. Die Stasi legte zu dieser Zeit einen so genannten „operativen Vorganges“ (OV) an, in welchem Gauck der Name „Larve“ gegeben wurde. In der Folge kam es regelmäßig zu sogenannten Informationsgesprächen. Ein OV diente der „Feindbearbeitung“. Mit seiner Hilfe sollten strafrechtlich relevante Informationen zusammengetragen und eine mögliche Verhaftung und Anklage vorbereitet werden. Die von der Staatssicherheit über Joachim Gauck angelegten Akten belegen, wie er in der Vorbereitung des Kirchentages dem Druck staatlicher Stellen nachgegeben hat.
In einem Zwischenbericht vom 26. August 1987 heißt es: „Zur inhaltlichen Vorbereitung wurden bereits Arbeits- und Themengruppen gebildet. Hierbei ist erkennbar, dass „Larve“ an keinen Themen interessiert ist, die sich offen gegen die staatlichen Verhältnisse in der DDR richten. Aus diesem Grund hat er den Lietz, Heiko ... anfangs nicht mit in den Vorbereitungskurs für den Kirchentag 1988 einbezogen. Erst auf Drängen von Lietz wurde dieser nachträglich in eine Themengruppe integriert und als Themenleiter eingesetzt.“
In einem IM-Bericht vom 2. November 1987 steht: „Zum Kirchentag 1988 in Rostock sagte Gauck eindeutig, dass ,wir‘ keinen sogenannten Kirchentag von unten haben wollen und es in Rostock nicht zu solchen Ausschreitungen wie in Berlin kommen wird. Der gesamte Kirchentag ist ein Kirchentag von unten, aber Missbrauchshandlungen läßt er nicht zu ... Rostock ist nicht Berlin – Gäste haben sich zu fügen und einzuordnen.“
Eine Aktennotiz der Staatssicherheit über ein Vorbereitungstreffen vom 9. Mai 1988 lautet: „Wörtlich äußerte Gauck: ‚Der Kirchentag 1988 ist zum Feiern da und nicht zum Demonstrieren!‘ “ Die staatlichen Behörden waren mit Joachim Gaucks Organisation des Kirchentags zufrieden. In einer Tonbandabschrift vom 27. Juli 1988 ist vermerkt, „... immer wieder bekräftigt Gauck, dass er mit dem Herrn Lietz nichts gemein habe, dass er schon mehrere Gespräche mit Herrn Lietz geführt hat, dass dieser Mann keine Chancen hat, einen Kirchentag von unten zu organisieren... Im Nachhinein lässt sich eindeutig aussagen, dass die Versprechen, die Gauck gegeben hat, auch von Herrn Gauck verwirklicht wurden.“
Obwohl bei den regelmäßigen Konsultationen zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und solchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR seit 1980 die Friedensfrage stets einen hohen Stellenwert einnahm (siehe die Dokumentation „Die Konsultationen“, hrsg. von Walter Hammer und Uwe-Peter Heidingsfeld, Frankfurt a.M. 1995), ist eine Reaktion des Kirchentagsbeauftragten Gauck auf diese in der DDR unterschwellig gärenden Spannungen nicht überliefert. Auch in der Rückschau verwundert diese Inaktivität. Denn auf den West-Kirchentagen (1981 in Hamburg, 1983 in Hannover und 1985 in Düsseldorf) wurden insbesondere die ostdeutschen Aktionen „Schwerter zu Pflugscharen“ thematisiert und gerieten zum Vorbild sowohl für evangelische als auch für säkulare Jugendgruppen in der Bundesrepublik.
Ebenso fanden offensichtlich auch Initiativen für neue, an den Bedürfnissen einer politischeren Jugend orientierte Formen christlichen Jugendarbeit keinen Eingang in die Materialien für die Rostocker Großveranstaltung. Erinnert sei insbesondere an den Jugenddiakon Lothar Rochau, der solches in Halle-Neustadt während der Jahre 1981 bis 1983 versucht hatte und der nach mehreren Festnahmen und einer Anklage wegen staatsgefährdenden Verhaltens schließlich ausgebürgert wurde. Hätten sich nicht kirchenleitende Persönlichkeiten wie Bischof Krusche (u.a. in einem Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi) für Rochau verwendet, wäre letzterer vermutlich zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Siehe hierzu die Dokumentation „Die Konflikte um den Jugenddiakon Lothar Rochau und seinen Dienst in Halle-Neustadt 1981 – 1983“, erarbeitet von Rudolf Schulze, Frankfurt a.M. 1996.
In der oppositionellen „Umwelt-Bibliothek“ der Ost-Berliner Zions-Kirchengemeinde zirkulierten bereits zwei Jahre vor dem Fall der Mauer Papiere, in denen unter dem Schlagwort „Pechblende“ (= Uraninit) über katastrophale Zustände im sächsischen Uranbergbau berichtet wurde. Seit 1946 betrieb dort die deutsch-sowjetischen Wismut AG den weltweit viertgrößten Uranabbau. Er forderte mindestens 700 tödliche Arbeitsunfälle; insgesamt dürften bis 1990 nahezu 25.000 Menschen an Silikose, Quarzstaublunge und Bronchialkrebs erkrankt sein.
Die Dokumente der „Umwelt-Bibliothek“ wurden der Evangelischen Nachrichtenagentur (ena) in Ost-Berlin übergeben, die sie an den Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt a.M. weitergab. Seit 1987 wurden sie in den kirchlichen Kreisen der Bundesrepublik im Rahmen der epd-Dokumentationsreihe „Kirche im Sozialismus“ weit verbreitet. Es ist nicht bekannt, ob Pastor Joachim Gauck die oppositionellen Kreise in der Zions-Gemeinde bzw. die um ihre Gesundheit betrogenen Wismut-Arbeiter unterstützt hat. Ob er schweigen musste oder schweigen wollte oder gar von diesem Problem, das in der DDR ein bekanntes, aber dennoch gehütetes Geheimnis war, gar nichts wusste.
Vor allem im Zusammenhang mit seinen zwei Kandidaturen für das Amt des Bundespräsidenten wurde Joachim Gauck oft als Bürgerrechtler bezeichnet. Doch exakt ein solcher war er nicht. Allerdings – er hat das auch nie behauptet, sich aber ziemlich unwidersprochen als ein solcher feiern lassen. Auch sein Freiheitsbegriff mutet abstrakt an. Es fehlt ihm die notwendige Konkretion. Freiheit von Diktatur und Indoktrination gehen in Ordnung. Zur Freiheit vor wirtschaftlicher Ausbeutung, vor Umweltzerstörung und vor Kriegen hat er sich nie eindeutig geäußert. So empfand er es beispielsweise als anstößig, dass der Begriff „neoliberal“ negativ besetzt sei (siehe seine Rede im Januar 2014 aus Anlass des 60. Gründungstags des ordoliberalen Walter-Eucken-Instituts in Freiburg).
Foto:
Joachim Gauck
© Deutschlandradio 2019