Die Diskussion um den Gesichtsschleier reißt nicht ab
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In Frankreichs öffentlichem Raum sind Nikab und Burka per Gesetz geächtet.
Nämlich auf der Straße, in Geschäften, Bussen, Bahnen und Behörden. Wer sein Gesicht nicht zeigt, verletzt elementare Regeln des menschlichen Zusammenlebens. So regelt es das Gesetz, das im April 2011 in Kraft trat. Verstoßen Frauen dagegen, müssen sie mit einer Geldbuße von 150 Euro rechnen oder an einem Staatsbürgerkurs teilnehmen. Doch anscheinend verpuffen die Androhungen wirkungslos. Denn eine uneinsichtige Frau zur Rede zu stellen, verursache nach Einschätzung der Polizei meist mehr Ärger als ihr Anblick. Ähnlich ist die Situation in Belgien, Dänemark, Österreich und mutmaßlich bald in den Niederlanden, wo ein Gesetz unlängst in Kraft trat. In Deutschland betreffen entsprechende Regelungen nur Beamte in einigen Bundesländern. Der Baden-Württembergische Justizminister Guido Wolf hat jetzt eine generelles Burka-Verbot in Deutschland gefordert.
Doch ist das alles lediglich viel Lärm um fast nichts?
Tatsächlich geht es um erheblich mehr als um viel Lärm um zu viel Stoff (von dem des Kopftuchs bis zu dem der Burka). Es geht um das Ausmaß an Einschränkungen im öffentlichen Raum, welche Religionen den säkularen und liberal-religiösen Bürgern aller Konfessionen zumuten (dürfen). Sowohl in Frankreich als auch in den Belgien, den Niederlanden und nicht zuletzt in Deutschland.
Es geht auch um die von der Verfassung garantierte Religions- und Meinungsfreiheit, die im Kern die Freiheit von Religion und sämtlichen Alleingültigkeitsansprüchen beinhaltet.
Der Streit um das muslimische Kopftuch (in seinen diversen Varianten) ist der Kampf um die Deutungshoheit in einer pluralistischen Gesellschaft. Ähnlich wie bei der AfD und anderen rechten Gruppierungen erleben wir den Versuch des orthodoxen Islams, menschenfeindliche Positionen zu enttabuisieren und sie dadurch zu einem legitimen Lebensentwurf unter vielen zu machen. Doch hinter dem jeweiligen Schleier verbergen sich anti-freiheitliche Positionen. Nämlich die Reduktion der Frau auf eine Gefährtin des Mannes ohne Anspruch auf eigene Persönlichkeit, der Hass gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Forderung nach geschlechtsgetrenntem Sportunterricht, die Gestaltung des Alltags nach nichtreflektierten religiösen Gesetzen und die widerspruchslose Akzeptanz autoritärer Herrschaft.
Religiöse Glaubensinhalte lassen sich nicht beweisen; sie sind weder mathematische Formeln noch Naturgesetze. Sie sind Versuche, sich den Ursprung der Welt und die Stellung des Menschen zu erklären und daraus ein Ziel aller geschichtlichen Entwicklung abzuleiten.
Häufig in Form von gleichnishaften Erzählungen – wie in der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament. So sind die zwei Schöpfungsberichte, die Vertreibung aus dem Paradies, die Sintflut und der Bund Gottes mit den Überlebenden Bestandteile einer geglaubten Vergangenheit, die gleichzeitig eine perspektivische Hoffnung für die Zukunft ist. Sie sind vermengt mit Berichten über tatsächliche historische Ereignisse und können als Summe weisheitlicher Erfahrungen gelten. Interessant ist in diesem Zusammenhang der allmähliche Wandel des Gottesbildes – vom allmächtigen und zeitweilig rachsüchtigen Herrscher hin zur gestalt- und namenlosen, sich dynamisch entwickelnden Gottesvorstellung.
Im Neuen Testament sind jüdische Heilserwartungen, altgriechische Opfertod-Mythen und die Verkündigung eines göttlichen Menschen, dessen historische Existenz nicht nachweisbar ist, miteinander verknüpft. Auch daraus kann man ethische Imperative mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch herleiten. Aber keinen Gott; vor allem keinen, der handelnd in die Geschichte eingegriffen hätte, sodass diese als Heilgeschichte interpretiert werden könnte.
Der Islam, dessen Entstehung sich auf das frühe siebte Jahrhundert im Kontext von Mohammeds Offenbarungen datieren lässt, verbindet Elemente der alttestamentlichen Vätergeschichte mit traditionellen Gottes- und Herrschaftsvorstellungen Arabiens. Jesus kommt in dieser heilsgeschichtlichen Komposition der Rang eines Propheten des alleinigen Gottes zu.
Diese Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam) sind einerseits geistesgeschichtliche Phänomene von hohem Rang. Anderseits stellen sie ausschließlich menschliche Reflexionen über vermutete Götter und die Eigenschaften der Natur dar. Deswegen geben ihre Gesetze und Ordnungen lediglich Momentaufnahmen aus ihrer jeweiligen Entstehungszeit wieder. Dies gilt vor allem für Bekleidungs- und Speisevorschriften, das Verhältnis von Mann und Frau sowie die Stellung der Geschlechter allgemein oder die Rechtfertigung bzw. Ablehnung weltlicher Herrschaft.
Während Judentum und Christentum längst progressive reformierte Richtungen hervorgebracht haben, die mit den Instrumenten der historisch-kritischen Forschung ihre Glaubensverständnisse analysieren und sie auf das Wesentliche für die Praxis in der säkularen Gesellschaft konzentrieren, steht eine solche, breitere Schichten umfassende Entwicklung im Islam noch aus. Folglich sind seine fundamentalistischen, also unhistorisch praktizierten Überzeugungen nichts anderes als der Geist geistloser Zustände. Er ist sowohl das Opium, mit dem die Gläubigen sich selbst berauschen als auch das Rauschgift, mit dem jeder kritische Geist ausgelöscht werden soll (formuliert in Anlehnung an Karl Marx).
Eine aufgeklärte, humane und solidarische Gesellschaft muss sich sowohl gegen die Unterwanderung durch nationalistische Blut-und-Boden-Mythen á la AfD, Identitäre & Co. als auch gegen religiöse Eiferer mit schlichten archaischen Botschaften wehren. Darum ist der Gesichtsschleier mehr als ein Stück Stoff. Er berührt in elementarer Weise das Selbstverständnis der Demokratie.
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Proteste gegen das Verbot von Nikab und Burka in Frankreich
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