AlexaDie Unterwanderung der Medien durch gelenkte Falschinformationen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich ist die „Frankfurter Rundschau“ immer noch ein Kernblatt des investigativen und unabhängigen Journalismus.

Eigentlich. Doch was man in der Wochenendausgabe vom 7. September in der Rubrik „Gastwirtschaft“ lesen konnte, war ein Tiefschlag. Eine Susanne Heinz, die als Erwachsenenbildnerin und Personalentwicklerin vorgestellt wurde, äußerte sich zu Lernmedien, speziell über solche für Kinder. Hier einige Originalzitate:

„Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie zu Schulzeiten das kleine Einmaleins lernen mussten? Meine Eltern sind schier an mir verzweifelt, weil ich mir das Ergebnis von 7x6 partout nicht merken konnte. Die Kinder von heute haben es leichter. Sie besitzen eigens dafür entwickelte Lernprogramme, die unermüdlich frisch und motivierend Feedback und Hinweise geben.“
Oder:
„Ich war ganz schön verblüfft, als ich hörte, dass die sechsjährige Tochter einer Freundin, die in diesen Tagen eingeschult wird, bereits lesen und schreiben kann – dank Alexa.“
Oder:
„Kinder können mit Programmen wie ScratchJr ihre eigenen interaktiven Geschichten und Spiele gestalten. Sie lernen nicht nur auswendig. Während sie programmieren, lösen sie Probleme und entwickeln eigene Projekte.“
Oder:
„Wir können uns mit einer App wie Blinkist die besten Ideen aus über 3000 Sachbüchern ziehen, ohne sie alle selbst lesen zu müssen. Sprachen lernen wir doch schon längst über Alexa und über unser Handy.“

Dieser Gastbeitrag machte mich wegen seiner dreisten und nicht verhüllten Produktwerbung neugierig. Nicht wegen der dort beschriebenen Episoden, die mutmaßlich der Phantasie entstammen. Sondern wegen der Autorin. Also befragte ich meine „Alexa“, die allerdings nichts mit der Spionagesoftware von Amazon zu tun hat, sondern eine umfassende und zumeist auf aktuellem Stande befindliche Datenbank ist, die sich aus seriösen Quellen speist und selbstverständlich auch anders heißt. Die erhaltenen Auskünfte waren ernüchternd:

Susanne Heinz verkauft ihre Dienstleistungen an jeden, der sie bzw. Ihre Firma artaro GmbH (München) bezahlen will und kann. Und sie erfüllt jede Obsession, soweit es sich um Versuche handelt, für sämtliche nur denkbaren Einfältigkeiten unplausible und falsche Argumente zu konstruieren. Die Verblödungsversuche von Frau Heinz sind dabei derartig unoriginell, durchsichtig und erkennbar von den Interessen ihrer Kunden bestimmt, dass selbst ihr Unterhaltungswert gleich null ist.

Allein ihre simple Geschichte vom Einmaleins-Lernen ist bezeichnend für die von ihr angewandte besonders schlichte Form der Manipulation. Selbstverständlich müssen Grundschüler üben, bis sie das kleine Einmaleins beherrschen. Die einen lernen schneller, die anderen benötigen etwas mehr Zeit. Ich erinnere mich noch gut an den Herbst 1955, als diese Aufgabe auf dem Unterrichtsprogramm meiner 2. Volksschulklasse stand. Innerhalb von vier Wochen hatten wir es verinnerlicht. Unser Lernprogramm war eine Vollblutpädagogin aus Fleisch und Blut und würde sie noch leben, könnte sie sicherlich sämtliche Lernschritte in der für eine korrekte Programmierung notwendigen minutiösen Abstraktion beschreiben. Und sie beherrschte sogar das, was man einer elektronischen Maschine nicht beibringen kann. Denn sie erahnte die Fragen ihrer 32 sehr unterschiedlich interessierten Schüler, ohne dass diese sie stellen mussten. Vermutlich haben wir deswegen so viel bei ihr gelernt.

Noch viele Jahre später, zu einer Zeit, in der ich mich beruflich mit elektronischen Programmen beschäftigte, war ich ihr noch nachträglich für die vermittelte Ausdauer beim verstehenden Lesen auch komplexester Literatur dankbar. Die Zusammenfassungen von „Blinkist“ waren Ende der 70er Jahre noch nicht erschienen. Aber sie hätten mir auch nicht weitergeholfen. Denn am mühevollen Durcharbeiten von Standardwerken führt kein Weg vorbei. Für den wissenschaftlichen Gebrauch lassen sich eben keine „Reader’s Digest Auswahlbücher“ erstellen.

Auch mit der geschilderten belanglosen Begebenheit über die angeblich frühe Lesekompetenz einer Vorschülerin will Susanne Heinz die FR-Leser verdummen. Als ich im April 1954 eingeschult wurde, konnten weder meine Klassenkameraden/innen noch ich lesen und schreiben; wenn man von den krakeligen Versuchen absah, den eigenen Namen auf die Schiefertafel zu kritzeln. Aber wir sollten diese Kulturtechniken ja erst erlernen, das war die Aufgabe der Schule. Und zwar nicht nur mechanisch und oberflächlich, sondern einschließlich aller Feinheiten, welche die Sprache als Abstraktion der Tatsachen bietet.

„Alexa“ kann das nicht vermitteln. Denn das Bildungsideal ihrer Schöpfer und Vermarkter ist der konsumorientierte und unkritische Mensch, der sein Durchschnittsdasein lebt. Hauptsache, er bestellt bei Amazon, lässt sich von Google verblöden, von Apple, Microsoft & Co. ausspionieren und lebt bei Facebook, Instagram und YouTube öffentlich seine Perversionen aus.

Foto:
Amazons Sprachassistentin ALEXA, eingebaut im Lautsprecher ECHO
© NDR