Israel Wahlen: Ist Bibis Zauber wirklich schon am Verblassen?
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Binyamin Netanyahu und Benny Gantz gehört datumsmässig der Vergangenheit an, nicht aber faktisch. In dieser Beziehung hat es gerade erst begonnen. Netanyahu warnte, wie nicht anders erwartet werden konnte, in seinen ersten Worten nach Bekanntwerden des Resultats vor der iranischen Gefahr, die Israel unvermindert bedrohe.
Netanyahu scheint also weiterhin auf den Angstfaktor und dem Kämpfen mit dem Rücken zur Wand zu bauen im Bestreben, seine eigene Karriere zu retten. Gleich anschließend warnte der immer noch amtierende Regierungschef vor dem Eingehen eines Regierungsbündnisses mit einer «gefährlichen, anti-zionistischen Partei», womit er die Gemeinsame Arabische Liste mit ihren 13 Sitzen meinte.
Um 4 Uhr, nach der Auszählung von 10% aller Stimmen, verfügte Blauweiss über 32 Mandate, der Likud über 31, die Gemeinsame Arabische Liste, wie gesagt, über 13 Stimmen, Liebermans Israel Beiteinu über 10 und Shas über neun Stimmen.
Lieberman meinte, es gebe nur eine Möglichkeit: Eine säkulare, große Regierung, die nicht jede Woche ums Überleben kämpfen müsse. Netanyahu wiederum meinte, eine israelische Regierung werde sich nicht auf eine «gefährliche, anti-zionistische Partei» abstützen dürfen. Benny Gantz, Blauweiss, erklärte, das Volk habe sein Wort gesprochen gegen Extremismus und Spaltung. Wer genau hinhörte, der vermisste in den Ausführungen des Blauweiss-Chefs jeden Hinweis auf das Nicht-Sitzen mit Netanyahu in einer Regierung. Hingegen wolle er mit allen reden. Sein Ziel sei eine «große Regierung».
Laut den Ergebnissen verfügt der Rechtsblock nur über 57 Mandate, und nicht über die für eine eigenständige Koalition nötigen 61 der total 120 Sitze. Die in den letzten Stunden der Wahlen vom Likud unter Netanyahus Anleitung verbreiteten Notstandsappelle ans Volk haben die Wirkung wahrscheinlich größtenteils verfehlt. Wir betonen aber nochmals: Mit einem genaueren Wahlergebnis wird man bis Mittwoch im Verlaufe des Nachmittags warten müssen. Es kann sich noch vieles ändern, und die Verlierer von gestern Abend können teilweise noch zu den Siegern von heute und morgen werden.
Die Bestimmtheit, mit der «Haaretz» schon in der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch vom «verblassenden Zauber» Netanyahus sprach, mag langfristig zutreffend, entsprach zum jetzigen Moment aber eher dem Wunsch als Vater des Gedankens. Am wenigsten zu beneiden wird in den nächsten Tagen und Wochen Staatspräsident Reuven Rivlin sein, der irgendwann ein Mal in nicht mehr so ferner Zukunft einem israelischen Politiker den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen muss. Allzu lange sollte er damit nicht zuwarten: Bis jetzt spricht man in Israel zwar erst hinter vorgehaltener Hand von der Möglichkeit eines Putsches im Likud, doch wenn die Felle der Macht den Rechts-nationalen effektiv davon zu schwimmen beginnen, darf keines, noch so hirnrissiges Szenario von vorneweg ausgeschlossen werden.
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Es ist noch nichts entschieden.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. September 2019