Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Sechzehn Jahre ist es mittlerweile her, seit der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Wochenzeitung Die Zeit schrieb: „Die Konzentration von finanzieller Verfügungsmacht und massenpsychologischer Einflussmacht in wenigen Händen entwickelt sich zu einer ernsten Gefahr für eine offene Gesellschaft.“ (Ausgabe vom 4. 12. 2003). Er war es auch, der das Wort vom Raubtierkapitalismus prägte. Verglichen damit klingt der Ruf des Vorsitzenden der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, nach einer besseren Gesellschaft eher verhalten und das Echo überdreht, ja geradezu lächerlich.
Kritik an der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung ist nicht verboten. Selbst wer diese Ordnung abschaffen und durch eine andere ersetzen möchte, kann sich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom. 20. Juli 1954 gedeckt fühlen. Darin heißt es: "Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.“ Artikel 15 des Grundgesetzes bestimmt unter dem Stickwort Sozialisierung: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Um was es bei der Diskussion im Grunde geht und worauf sich der eine und die andere bei der SPD gelegentlich besinnen sollte, liest sich bei Friedrich Engels so: „Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche.“ (Engels: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“).
Mit der Umsetzung dessen, was Friedrich Engels und Karl Marx vorschwebte, hatten ihre Adepten in der Sowjetunion und einigen mittel- und osteuropäischen Staaten beträchtliche Schwierigkeiten, die sie in den eigenen Untergang führten. Zu denen, die damals das Ende des „utopischen Zeitalters“ verkündeten, gehörte der langjährige Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Joachim Fest. In seinem Essay „Der zerstörte Traum“ (Berlin 1991) schrieb er: „Selbst wenn die verheerenden Spuren noch überall sichtbar sind, ist der Sozialismus dabei, Geschichte zu werden.“ Gleichzeitig bezweifelte er, ob der Mensch ohne Utopien leben könne und woher er dann seine Hoffnungen und seine Tröstungen nehmen solle.
Wortmächtigster Anwalt des neueren utopischen Denkens, so Fest, sei der Philosoph Ernst Bloch gewesen. Er habe den Begriff zum Ausgangspunkt allen menschlichen Handelns, Hoffens und Denkens gemacht. Seit Anbruch der Zeiten hätten die Einzelnen wie die Völker von einem besseren und glücklicheren Dasein geträumt, von einer Welt ohne Sorge, Enttäuschung und Kampf. Das „immer Ergriffene, Entrüstete und Gewalttätige“ habe Bloch zum Kommunismus der Moskauer Art hingezogen. Mit dem Sozialismus sei nach dem Nationalsozialismus nun auch der andere machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert. Damit ende der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf formen lasse.
„Es mag durchaus sein“, räumt Fest ein, „dass der sozialistische Gedanke selber, wie behauptet wird, ‚unsterblich’ ist. Aber die wirkliche Frage lautet, ob er mehr sein kann und der Versuch seiner buchstäblichen Umsetzung nicht immer wieder ins Ausweglos führen muss.“ Nicht auszuschließen sei, „dass die Utopie als Verlangen nach dem ganz anderen, nach Verheißung und Epiphanie, vielleicht doch eine elementares Bedürfnis widerspiegelt, gegen das auch eine enttäuschende Erfahrung nur schwerlich ankommt.“
War es also doch nichts mit dem Ende des utopischen Zeitalters? Niemand wird Fests abschließender Feststellung widersprechen, nur wer die Unvollkommenheit der Welt in Rechnung stelle, ohne sich von ihr korrumpieren zu lassen, könne der Welt wie den Menschen gerecht werden. Fest starb 2006, zwölf Jahre nach seinem Ausscheiden bei der FAZ.
Schluss folgt
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Bundeskanzler Schmidt
© ndr.de
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