DAS JÜDISCHE LOGBUCH Oktober 2019
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Europa, Oktober 2019. Der rechtsextreme Terrorismus ist Jahrzehnte alt, Jahrzehnte verdrängt und weggeredet worden. Er ist nach dem Holocaust nie aus Europa verschwunden: verbaler Neonazismus, Faschismus, Einzeltaten, Geschichtsrelativierung und Antisemitismus seit den 1945, eskalierend in den 1960er-Jahren, Anschläge oder Anschlagsversuche auf jüdische Gemeinden seit den 1970er-Jahren, Anschläge auf Flüchtlingsheime von Rostock über Lübeck bis Solingen seit den 1980er-Jahren, das Terrornetzwerk NSU seit den 2000er-Jahren, rechtspopulistische Regierungsparteien in Europa seit den 2010er-Jahren und eine in ganz Europa, den USA und weltweit sich wandelnde, neu organisierte und durch demokratisch legitimierte Parteien flankierte Rechtsextreme und neonazistische, teils im Untergrund agierende Szene bis hin zu Reichsbürgerbewegungen. Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer, Fremde, Migranten, Liberale, Linke und Frauen sind Hassobjekte.
Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa ist seit Jahrzehnten faktisch herausgefordert. Der Diskurs abseits von Plattitüden von Funktionären und Ideologen muss sich allerdings drastisch ändern. Der nicht zu unterschätzende bedrohliche islamistische Terrorismus wurde ein Alibi beim Ignorieren, Relativieren und Leugnen des vorsätzlich unterschätzten rechtsextremen Terrors vorrangig gegen Juden, Muslime, Liberale. Rechtsstaatlich konstituierte Demokratien mit Gewaltentrennung sind eine liberale Errungenschaft.
Längst nicht nur rechtsextreme Parteien, längst nicht nur die völkische Sektion der AFD in Deutschland, sondern viele rechte Parteien wollen den Rechtsstaat aushebeln und die Sicherheitsorgane politisch definieren. Ob die rasch erfolgte Forderung nach mehr Sicherheit die mittelfristige Lösung der Problemstellung und nicht selbst populistische Realitätsferne ist, bleibt dahingestellt. Sicher ist allerdings: Wenn nicht mehr Fakten, sondern politische Stimmungen Ausgangspunkt von behördlicher und politischer Arbeit sind, dann werden jene zum Teil des Problems, das sie lösen sollten. Halle, Christchurch, Baltimore, Poway sollten nicht zu Warnschüssen stilisiert, sondern endlich Erkenntnis und Endpunkt der Eskalation durch neonazistischen Terror werden.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. Oktober 2019
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.