Serie: Ein hochaktueller Text von Thomas Mann aus dem Jahr 1949, Teil 3/4
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Redaktionelle Vorbemerkung: „J’accuse – Wider die Selbstgerechtigkeit der besseren Welt“ lautet die Überschrift eines politischen Traktats, den Thomas Mann vor 69 Jahren verfasste, nachdem ihm, der damals noch im amerikanischen Exil lebte, eine als Manuskript gedruckte Publikation mit dem Titel „Extempore“ zugeschickt worden war. Sie erschien nur kurze Zeit - vom 15. Juli bis zum 15. November 1949 im Vita Nova Verlag, Luzern.
Der aus Deutschland vertriebene Literatur-Nobelpreisträger reagierte mit „Freude, Überraschung, ja Erstaunen“ auf den Inhalt, den er als „Anregung und Ermutigung“ empfand. Als unveröffentlichte Arbeit Thomas Manns lag dessen Text 41 Jahre in dem nach ihm benannten Archiv in Zürich. Erstmals veröffentlicht wurde er – versehen mit einer Einleitung durch Inge Jens - 1991 in Heft 12 der„Blätter für deutsche und internationale Politik“ als Vorabdruck von Manns „Tagebücher 1949-1950“ (S.Fischer Verlag). Mit freundlicher Genehmigung der„Blätter“-Redaktion hat Kurt Nelhiebel Auszüge für „Weltexpresso“ zusammengestellt.
Unsere Politik in Deutschland ist ein schlechter und rechter, hellichter Skandal. Ich sage damit nicht mehr, als der republikanische Senator Gillette, der in einer Radiorede von der „kurzsichtigen, unverantwortlichen und stupiden Politik“ gesprochen hat, die zum Vorteil der deutschen Nationalisten und Nazis von den amerikanischen Behörden in Deutschland betrieben werde. Er hat zusammen mit Hendricksen, Ives und Pepper die Bestellung eines Kongress-Ausschusses gefordert, der die Methoden und Ergebnisse der so genannten Entnazifizierung in der amerikanischen Zone Deutschlands untersuchen solle. Daraus wird nichts werden. Die bedenkenlose – man sollte sagen: ruchlose – Einbeziehung des deutschen Militarismus in die „Europäische Front“ ist, trotz allen europäischen Ängsten davor, beschlossene Sache und der nationalsozialistische Aufmarsch in vollem Gange. Harmonisch verbindet sich die Abscheu vor dem Sowjet-Kommunismus mit neuen, altbekannten Spekulationen auf die Dienste eines freundlich behandelten Nationalismus, mit der Schonung, Begünstigung und der neuen Mobilisierung der Nazi-Unterwelt.
Alles, was 1945 einen Augenblick, schon damals mit Unrecht, glaubte, sich verkriechen zu müssen -, frech erhebt es wieder sein Haupt, patriotisch beherrscht es die Szene, und kaum um 1930 hat sich das bessere, höhere, reinere Deutschland in solcher Isolierung befunden. Niemand hat es mehr nötig, zu beteuern, er sei im herzen nie Nationalsozialist gewesen. Im Gegenteil, aller Vorteil ist bei denen, die es von Herzen waren – und die es geblieben sind. Immer mehr werden die Spruchkammerverhandlungen zu Kundgebungen nationaler Hochachtung vor den Führern und Nutznießern des Dritten Reiches, und die „Entnazifizierung“, die sich als Mittel zur Reinigung des deutschen öffentlichen Lebens ausgab ist zur Farce geworden. Herabgesetzt auf den Rang eines politischen Ablenkungsmanövers.
Dabei schließe ich Deutschland keineswegs aus, sondern nehme seinen berechtigten Widerstand gegen wirtschaftliche Ausbeutung in Schutz, wenn ich mein Erschrecken ausspreche vor der Meinung dieses großen Koloniallandes Amerika, es könne Europa, die Wiege aller abendländischen Kultur, als Kolonie behandeln – gut genug, ihm als strategisches Vorfeld für seinen Krieg mit Russland zu dienen; als einen Haufen von Völkerschaften, deren innere Politik man bevormundet und die man bezahlt und bewaffnet, damit sie diesen Krieg für uns führen. Man kann voraussagen, dass sie das nicht tun werden, keine Hand wird sich dort rühren für uns hier, und ein verhängnisvoller Irrtum wäre es, die allgemeine Kriecherei vor amerikanischem Reichtum als die Bereitschaft auszulegen, der amerikanischen Weltherrschaft zuliebe ganz Europa in den Zustand Dresdens und Würzburgs versetzen zu lassen.
„Was den Völkern fehlt, ist nicht das Wissen um die Kluft zwischen einem Katalog der Menschenrechte und den Zuständen hinter dem Eisernen Vorhang, sondern das Vertrauen zu der Aufrichtigkeit derer, die mit dem Programm der Menschenrechte Politik machen.“ Das ist wohl der wichtigste Satz, den das Schweizer Blatt gedruckt hat. Denn wirklich, wo bleibt das Programm, wenn es Politik gilt? Einem nationalbolschewistischen Lande wie Jugoslawien wallt auf einmal unsere Sympathie entgegen, bloß weil es aus der russischen Organisation Ost- und Südeuropas ausbrechen will. Der Kommunismus, scheint es, braucht sich nur mit einem geschichtlich als verhängnisvoll erwiesenen nationalen Separatismus zu paaren, um uns wohlzugefallen.
Und hat sie nicht etwas Widerwärtiges, die Verhätschelung kommunistischer Renegaten, die breit sind, unseren committees gegen ehemalige Genossen und gegen das Land ihres ehemaligen Glaubens auszusagen, und deren Wort mehr gilt, als das jedes amerikanischen Bürgers, den sie des politischen Lasters beschuldigen, das von ihnen gewichen ist? Stehe ich allein mit meinem moralischen Missbehagen darüber, dass wir diesen Typus feiern, seine Denunziationen mit Gold aufwiegen und kein Grauen kennen vor ex-stalinistischen Megären, die die Haut ihrer leiblichen Brüder zu Markte bringen?
Schluß folgt