Ein Nachwort zum 30. Jahrestag des Mauerfalls
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Liebe Claudia, gestatte mir ein Nachwort zu meinen Anmerkungen zum 30. Jahrestag der Mauerfalls. Während ich jenen Text schrieb, habe ich mir natürlich Gedanken über meine eigene Haltung zur DDR gemacht und bin ohne langes Überlegen zu dem Ergebnis gekommen, dass ich dort nicht hätte leben wollen, einfach weil ich das Gefühl nicht ertrage, eingesperrt zu sein. Ich habe das schon als Kind nicht ertragen und als Erwachsener erst recht nicht.
Als ich während der Kämpfe in Berlin in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet war das, neben der Erleichterung über das Ende des Krieges und der Naziherrschaft, die alles andere überlagernde Empfindung: Plötzlich unfrei zu sein, gefangen zu sein. Zum Glück konnte ich nach ein paar Tagen fliehen. Die Pein des Eingesperrtseins habe ich auch als Gefangener in einem tschechischen Lager für Nazianhänger empfunden. Hier kam noch hinzu, dass ich mich als Sohn eines Hitlergegners gedemütigt fühlte, mit den sudetendeutschen Nazis auf eine Stufe gestellt zu werden.
Als Antifaschist habe ich - nachdem die Bundesrepublik aus der Taufe gehoben worden war - das Entstehen der DDR spontan begrüßt, und zwar auch deswegen, weil ich Genugtuung darüber empfand, dass die kapitalistischen westlichen Siegermächte sich die Kriegsbeute Deutschland mit der sozialistischen Sowjetunion teilen mussten. Dass es mir kurz danach zusammen mit meiner späteren Frau gegen alle Widerstände gelang, am Deutschlandtreffen der Jugend in Ostberlin teilzunehmen, empfand ich als persönlichen Triumph, den Arbeiteraufstand vom 17. Juni hingegen als persönliche Niederlage, obwohl da die ersten Zweifel an mir zu nagen begannen.
Diese Zweifel verstärkten sich, als ich 1957 während einer Reise in die Sowjetunion als journalistischer Begleiter einer Delegation von Antifaschisten aus der Bundesrepublik und der DDR erfuhr, dass sowjetische Kriegsgefangene – einer von ihnen hieß Nikolai Poljakow - , den ein Frankfurter Widerstandskämpfer von seiner Zeit im KZ Buchenwald her als Mitgefangenen kannte und den er nun in Moskau wiedersah, nach der Befreiung in ihrer Heimat erneut in ein Lager gesteckt und erst nach Stalins Tod wieder entlassen wurden. Man hatte ihnen unterstellt, die deutsche Gefangenschaft nur überlebt zu haben, weil sie mit den Nazis kollaborierten. Diese Denkweise wollte und konnte ich mir nicht zu eigenen machen.
Kurz vor der Einweihung des Mahnmals auf dem Ettersberg bei Weimar zur Erinnerung an das Leid und den Widerstand der Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald, besuchte ich die groß angelegte Mahn- und Gedenkstätte, um darüber eine Reportage zu schreiben. Am Ende des Besuches vertraute mir mein Begleiter vom Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR unter vorgehaltener Hand an, er würde gern mit mir in den Westen reisen. Den Kapitalismus zu bekämpfen sei leichter, als den Sozialismus aufzubauen. Ich habe das nie vergessen können.
Zu jener Zeit existierte die Vereinigung der Verfolgten der Naziregime (VVN), die in der Bundesrepublik noch heute besteht, in der DDR nicht mehr. Die SED hatte ihr in einer akribisch geplanten Nacht-und-Nebel-Aktion den Garaus gemacht, weil sie die Organisation als politische Konkurrenz empfand. Das schändliche Unternehmen wurde nach außen hin als Selbstauflösung hingestellt. Als Feigenblatt diente ihr das neu ins Leben gerufene Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer. Das konnte an der kurzen Leine gehalten werden. Von dem Intrigenspiel erfuhr ich erst nach dem Fall der Mauer, als ich nach Material über den Umgang beider deutscher Staaten mit dem deutschen Widerstand gegen das Naziregime forschte.
Dabei stieß ich auch auf Unterlagen zum Prozess gegen Robert Havemann. Der angesehene Kämpfer gegen die Nazidiktatur hatte sich durch kritische Äußerungen über den Führungsstil der SED unbeliebt gemacht und sollte zum Schweigen gebracht werden. Auch dieser Prozess war ein perfekt organisiertes Schmierentheater, das mich in seiner Abgefeimtheit bis heute verstört und mit Abscheu erfüllt. Was mich von Anfang an zutiefst befremdete und kränkte, waren die Wachtürme an der DDR-Grenze, die mich an die Wachtürme eines Konzentrationslagers erinnerten, sowie das Gehabe der Grenzwächter, die in jedem Besucher einen Kriminellen zu vermuten schienen. .
Auch wenn ich mir gelegentlich sagte, dass die DDR gute Gründe hatte, sich gegen das Eindringen von Feinden zu wehren, so ging es doch hier um etwas ganz Anderes. Die so genannten Grenzsicherungsmaßnahmen richteten sich hauptsächlich gegen die Bürger des eigenen Landes. Sie sollten abgeschreckt und daran gehindert werden, das Land zu verlassen. Und ich? Hätte es mich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in den Westen Deutschlands verschlagen, sondern in den Osten, in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands, wäre ich einer der ersten gewesen, die sich in den Westen absetzten, auch weil ich es nicht ertrage, wenn mir mein Denken vorgeschrieben wird. Dass ich es gleichwohl ablehne, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen, hat andere Gründe. Ich möchte nicht, dass der auf den NS-Staat gemünzte Begriff auf einen Staat übertragen wird, der sich vieles vorwerfen lassen muss, nicht aber die Schuld am Zweiten Weltkrieg und nicht den Völkermord an den europäischen Juden.
Fotos:
Ehemalige sowjetische Buchenwald-Häftlinge während einer Gedenkfeier. Nikolai Poljakow vierter von links.
Das Buchenwald-Mahnmal auf dem Ettersberg bei Weimar.
© Die Fotos sind dem Bildband „Buchenwald“ entnommen; Kongress Verlag Berlin