Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Neuwahlen – das Zauberwort ohne Zauber. Und gleichzeitig in aller Munde. Aber wer in der israelischen Medienlandschaft nicht mit einer überzeugenden und neuen Perspektive überrascht, der kann es auch gleich bleiben lassen. Denn auf ihn wartet medialer Einheitsbrei. Wann Israel eine neue Regierung erhält und wie diese zusammengesetzt sein wird, sind derzeit nur rhetorische Fragen, die auch die Tagespresse nicht beantworten wird. Dabei gäbe es genug Themen, die die Israeli beschäftigen sollten und die höchstens indirekt mit eventuellen Neuwahlen oder den Anklagen gegen den Premierminister zu tun haben.
Da wäre vor allem die eher düstere Prognose zu nennen, die Zvika Haimovich, Brigadegeneral und bis zu seinem Rücktritt aus der israelischen Armee 2018 Kommandant der IDF-Luftverteidigungsdivision, öffentlich kundtat. Seiner Ansicht nach muss sich Israel auf einen in mehrere Richtungen gerichteten Angriff Irans vorbereiten. «Wenn Iran Israel attackiert», sagte er, «muss sich Israel gegen ein hochprofiliertes Ziel richten. Es spielt keine Rolle, ob die Iraner die chemischen Einrichtungen in Haifa oder eine kleine Fabrik in Kfar Saba angreifen. Es spielt keine Rolle. Eine Attacke durch Iran, eine massive Attacke gegen den Staat Israel, ist eine Kriegserklärung, auch wenn sie von Irak aus lanciert wird.» Ein Krieg gegen Iran werde nicht nur die Öffnung einer Front der Hizbollah gegen Israel von Libanon und Syrien aus bewirken sowie die mögliche Teilnahme schiitischer Milizen in Irak, sondern auch «all die verschiedenen Spieler in Gaza» involvieren. Auf eine solche Attacke müsse Israel sich vorbereiten, so Haimovich. Und dann kommt der ehemalige General zu einem Schluss, den vermutlich viele gerne überhören würden: «Wenn dies geschieht, werden Tausende von Raketen und andere Geschosse den Staat Israel treffen. Wir können nicht den ganzen Staat beschützen, nicht einmal mit unserem Verteidigungssystem, das uns zur Verfügung steht.» Das israelische Verteidigungsestablishment macht sich Sorgen darüber, dass Iran eventuell eine Attacke mit Cruise-Raketen oder mit Selbstmord-Drohnen verüben will, ähnlich jenen der Oktober-Angriffe auf die Aramco-Ölfelder in Saudi-Arabien. Und im Gegensatz zu jenen Attacken, als man keine öffentlichen militärischen Antworten der Saudis oder der USA gegen Teheran registrieren konnte, gibt es für Haimovich keine Zweifel über die israelische Reaktion: «Wir werden uns nicht wie die Saudis verhalten, und die Iraner wissen das.»
Stärkste Raketenmacht
Dies sagte der ehemalige hochrangige israelische General zur «Jerusalem Post» kurz nachdem Premier Binyamin Netanyahu und General Kenneth McKenzie, Chef des US-Zentralkommandos, davor gewarnt hatten, dass Teheran weitere Attacken plane und Israel daran arbeite, Iran daran zu hindern, Irak und Jemen in Basen für Raketenangriffe gegen Israel zu verwandeln.
Trotz aller Sanktionen, die vor allem Washington gegen Iran verhängt hat, dürfen wir keinen Moment vergessen, dass Teheran nach wie vor die stärkste Raketenmacht des Nahen Ostens ist. Das Inventar der Islamischen Republik an Kürzest-, Kurz- und Mittelstreckenraketen (ballistischen Raketen), die alle Ziele im Umkreis von 2000 Kilometern treffen können, entspricht dem Inventar einer Grossmacht. Haimovich verdeutlicht die Situation noch: «Die Iraner sind sehr ehrgeizig und haben ihr Raketenprogramm keinen einzigen Tag gestoppt.»
Unnötige Provokationen vermeiden
Israel steht diesen Gefahren natürlich nicht schutzlos gegenüber: Sein Abwehrsystem mit ständig sich verbessernder Technologie besteht in erster Linie aus Iron Dome, Arrow 2 und 3 sowie dem Verteidigungssystem «David-Schlinge». Doch sogar mit jedem dieser Verteidigungssysteme ist laut Haimovich nichts absolut hermetisch, und eine breit angelegte Raketenbarrage, die auch einige Präzisionsprojektile einschliessen würde, sei eine «wirkliche Bedrohung» für Israel. Haimovich nennt das Kind beim Namen: «Mit einer Bedrohung aus gleichzeitig verschiedenen Richtungen muss das israelische Raketenabwehrsystem flexibel genug sein, um sich mit simultanen Gefahren zu befassen.» Nicht einverstanden ist der Ex-Brigadegeneral mit dem öffentlichen Eingeständnis der israelischen Führung, hinter den Attacken gegen den Iran zu stehen. Damit würde Israel Teheran zu Reaktionen provozieren. «Ich zog die frühere Stille vor.» Vielleicht ist es vermessene Spekulation, in begrenzten iranischen Reaktionen auf IDF-Angriffe Teile eines israelischen Konzeptes im Hinblick auf eine gewollte Eskalation der Situation zu sehen. Ganz abwegig ist dies aber nicht, hängen doch solche Entscheide letztlich meist von der politisch-ideologischen Einstellung der jeweils amtierenden israelischen Politiker ab. Verantwortungsbewusst wäre das riskante Spiel mit den Prioritäten eines rücksichtslosen, fanatischen Gegners aber kaum. Zur richtigen Zeit die adäquaten Entscheidungen zu treffen, gehört nicht zuletzt auch zu den politischen Erfordernissen.
Foto:
Brigadegeneral Zvika Haimovich war bis 2018 Kommandant der IDF-Luftverteidigungsdivision, heute warnt er vor einem Angriff Irans auf Israel
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 29. November 2019
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 29. November 2019