Bildschirmfoto 2020 01 10 um 08.36.05Zum USA-NAHOST-Konflikt

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Die Tötung Kassem Soleimanis durch die USA wirft in Israel die dringliche Frage nach akuter Gefahr auf, während die Politik beschwichtigt, warnen die Sicherheitsexperten des Landes.

Die Mitglieder des israelischen Sicherheitskabinetts kamen diese Woche vor dem Hintergrund der Tötung von Kassem Soleimani, dem Kommandanten der iranischen Al-Quds-Elitetruppe – de facto ein Terrorverband – zu einer Dringlichkeitssitzung in Tel Aviv zusammen. Dabei dürfte im ersten Moment folgender Hinweis führender Sicherheits- und Geheimdienstoffizieller beruhigend auf sie gewirkt haben: Es sei unwahrscheinlich, spekulierten die Offiziellen, dass Iran sich bei Israel für Soleimanis Tod rächen würde. Auch Premier Netanyahu legte das Schwergewicht auf die gleiche Beschwichtigungspolitik, als er vor den anwesenden Ministern meinte, die Tötung des Meisterterroristen sei eine ­«amerikanische Angelegenheit», in welche Israel nicht verwickelt sei und auch nicht hineingezogen zu werden wünschte. Welches Gewicht solchen Äußerungen nach den iranischen Raketen vom Mittwoch auf die US-Basen Irbil im Norden und Ein el-Assad im Westen Iraks noch beigemessen werden kann, könnte sich schon in den nächsten Tagen herausstellen. Eine amerikanische Reaktion dürfte letzten Endes von der Anzahl der von den iranischen Raketen betroffenen US-Soldaten abhängen. Je mehr zudem Teheran in die Defensive gedrängt werden sollte, umso höher würde das Risiko sein, dass sich die Islamische Republik bei ihren Vergeltungsaktionen nicht nur auf direkt amerikanische Zielobjekte beschränken wird.

Die zunächst den Anschein einer bewussten und vorwiegend politisch motivierten Beruhigung erweckenden Wortmeldungen (Israel steht vor Wahlen) widersprachen im Wesentlichen den Echos der Leute «im Felde». Allen voraus schlugen die Warnungen der Botschaften der USA und Kanadas in Israel einen deutlich anderen Ton an, als sie in einer Mitteilung an ihre Landsleute einen Raketenangriff auf Israel nicht rundweg ausschlossen. Solche Ereignisse würden, wie die Kanadier etwa meinten, oft ohne eigentliche Vorwarnungen eintreten.


Strategien sollten rasch geändert werden

Auch israelische Fachexperten fühlen sich angesichts der ihrer Meinung nach allzu leichtfertig demonstrierten Gleichgültigkeit der Politiker nicht allzu wohl in ihrer Haut. So soll in diesem Zusammenhang das seit 1977 aktive unabhängige Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) genannt werden. Das mit der Tel-Aviv-Universität affiliierte Institut, eigentlich eine Denkfabrik, konzentriert sich auf Themen der nationalen Sicherheit wie militärische und strategische Angelegenheiten und Terrorismus.

Vor diesem Hintergrund kann gesagt werden, dass der diesjährige INSS-Jahresbericht zu keinem idealeren Zeitpunkt hätte veröffentlicht werden können. Der INSS-Bericht lag den Empfängern fast zeitgleich mit Soleimanis Tod vor. Dem Vernehmen nach waren die INSS-Forscher nach Bekanntwerden der Ereignisse von Bagdad rund um die Uhr damit beschäftigt zu verhindern, dass der Jahresbericht schon unmittelbar nach seiner Publikation veraltet ins Archiv wandern müsste. Das scheint zu guter Letzt nicht der Fall gewesen zu sein, wie die beiden Hauptschlagzeilen des Berichts andeuten. Erstens gilt es laut INSS, sich auf einen breit angelegten potenziellen Krieg zwischen Teheran und Washington vorzubereiten, und zweitens kam das Institut angesichts der sich überstürzenden Geschehnisse zum Schluss, dass Israel in der Lage sein müsse, Strategien rasch zu ändern.


Nukleare Gefahr Irans als weniger 
schlimm eingestuft

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen zwischen Iran, den USA und Israel im Anschluss an die Tötung Soleimanis wird das Fehlen einer stabilen israelischen Regierung die Fähigkeit Jerusalems beeinträchtigen, seine breit angelegten nationalen Sicherheits- und aussenpolitischen Ziele in die Tat umzusetzen. Das war eine der Quintessenzen von Staatspräsident Reuven Rivlin. Das Fehlen der Stabilität könnte sich gemäß dem Bericht dann als höchst problematisch erweisen, wenn Iran und die USA sich in einen breit angelegten Krieg verwickeln, der die ganze Region in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die Forscher arbeiteten vor der Präsentation intensiv an der Abfassung einer zusätzlichen Sektion, um die Auswirkungen der Ermordung Soleimanis in den Bericht zu integrieren. Alles in allem beurteilt das INSS die nukleare Gefahr Irans als weniger schlimm als einige andere kurzfristige Gefahren für 2020. Langfristig hingegen stellt die Atomgefahr für Israel die grösste existenzielle Gefahr dar. Laut INSS könnte Israel einfach nicht in der Lage sein, über eine gewisse Zeitperiode hinaus Waffentransporte in genügendem Ausmass anzugreifen, insbesondere nicht, wenn Irak Teil der Gleichung sein sollte. Im Anschluss an die amerikanische Eskalation mit Iran und irakischen Schiiten und einem möglichen Rauswurf amerikanischer Truppen aus Irak (heute sind rund 5000 US-Truppen im Irak stationiert), könnte die israelische Handlungsfreiheit im irakischen Luftraum umständlicher werden. Aus diesem Grund empfiehlt der Jahresbericht einen israelischen Präventivschlag gegen die wichtigsten Raketenarsenale der Hizbollah oder anderer ­Schiitengruppen in der Nähe. Laut INSS ist eine Kombination dieser neuen Strategien nötig, um zu verhindern, dass die Raketenkapazität der Hizbollah und anderer Schiitengruppen sich von einer «bedeutenden Gefahr» zu einer «existenziellen Gefahr» entwickelt.


Trotzdem hochexplosive Lage

Das INSS warnt ferner, dass für den Fall, dass es Israel nicht gelingen sollte, mit der Hamas eine wenigstens mittelfristig gültige Waffenruhe zu erwirken, die Chancen auf eine Wiederholung des Gaza-Kriegs von 2014 hoch sind, was vielleicht noch dieses Jahr Wirklichkeit werden könnte. Das Institut betrachtet die gegenwärtige Situation als so explosiv, dass Israel bereit sein müsse, seine Strategien urplötzlich und fundamental in jeder nationalen Sicherheitsarena zu verschieben, um seine Sicherheit auch angesichts sich verändernder Herausforderungen zu bewahren.

Was die Beziehungen zwischen Israel und den USA angeht, verlangt das Institut von Israel, sich erneut als parteienüberschreitenden Fakt zu positionieren. Die nächsten ­US-Präsidentschaftswahlen könnten laut INSS zu demokratischen Siegern führen, die Israel gegenüber persönlich nicht unbedingt so verpflichtet wären wie Trump oder frühere Präsidenten. Im Zentrum der Zukunftsperspektiven des Instituts steht aber eindeutig das Verhältnis Israels zur Hamas. Einerseits befürwortet das INSS eine Waffenruhe mit den Herren von Gaza. Im Falle eines Kriegsausbruchs mit ihnen aber muss Israel laut INSS entschlossener und mit grösseren Überraschungseffekten gegen die militärischen Einrichtungen der Hamas vorgehen als in der Vergangenheit. Zwar sollten die IDF den Gazastreifen nicht wieder erobern, doch die Armee müsse um ein Resultat bestrebt sein, bei dem die Hamas nicht länger der einzige Herrscher der Küsten­enklave zwischen Südisrael und Ägypten wäre.

Foto:
Iran dürfte sich bei Vergeltungsaktionen nicht nur auf direkt amerikanische Zielobjekte beschränken
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. Januar 2020