Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Naziregimes, 4/4
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Die Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion sind das Ergebnis der jahrzehntelangen Verharmlosung rechtextremistischer Bestrebungen. Allzu gern wird vergessen, dass während des Kalten Krieges nicht die Bekämpfung des Neonazismus im Vordergrund stand, sondern die Bekämpfung der Kommunisten und all derer, die dafür gehalten wurden. Nur so konnte es dazu kommen, dass zwei Monate nach dem Beginn des Auschwitzprozesses der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke einem der Mitschuldigen an der Ausbeutung von Auschwitzhäftlingen das Bundesverdienstkreuz verlieh.
Geehrt wurde auf Vorschlag des Bundesverbandes der deutschen Industrie der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates der Ruhrchemie AG Oberhausen, Dr. Heinrich Bütefisch, ehemals leitender Angestellter des IG Farbenkonzerns und von einem alliierten Gericht nach Kriegsende als Beteiligter an der Ausbeutung von Auschwitzhäftlingen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Die Beteiligten an dem Ordensskandal hatten davon angeblich keine Ahnung. Als Bütefisch sein Verdienstkreuz nach dem Anruf einer Schweizer jüdischen Zeitung zurückgeben musste, wurde die peinliche Angelegenheit schnell unter den Teppich gekehrt.
Das ist es wohl, was Fritz Bauer meinte, als er nach dem Auschwitzprozess resigniert feststellte, in dem Verfahren sei „das Herz des Ganzen” nicht zur Sprache gekommen. Viele sahen in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Art Nestbeschmutzung, viele waren verstrickt in das Gewaltregime der Nationalsozialisten und an einer Bloßlegung seiner Wurzeln nicht interessiert. Warum musste Bundeskanzler Konrad Adenauer ausgerechnet einen von ihm selbst später als „tiefbraun” bezeichneten Experten der Nazis für die Neuordnung des europäischen Ostens namens Theodor Oberländer in sein Kabinett holen?
Weshalb musste er ausgerechnet den Mitverfasser eines juristischen Kommentars zu den Rassegesetzen der Nazis, Dr. Hans Globke, als engsten Berater und Staatssekretär im Kanzleramt beschäftigen, ihn, der diesen Kommentar später selbst als „entsetzlich und abstoßend” bezeichnet hat. Musste da nicht der Eindruck aufkommen, dass es mit der Judenverfolgung wohl nicht so schlimm gewesen sein konnte, wenn einem solchen Mann dieses wichtige Amt anvertraut wurde? (Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, 1983, S. 173.) Heute würde man sagen: Eine schlimmere Verharmlosung des Ungeistes der Nazizeit konnte es gar nicht geben.
Zyniker sagen, Globkes Tätigkeit als Staatssekretär im Bundeskanzleramt habe der Demokratie nicht geschadet. Schließlich hätten sich doch alle vom Ungeist des Nationalsozialismus distanziert. In der Tat hat es an solchen Bekundungen nicht gemangelt. Immer wird versichert, die Bekämpfung des Neonazismus und Rechtsextremismus gehöre, so wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den entscheidenden Lehren der Vergangenheit. In Wirklichkeit beschäftigten sich die Strafverfolgungsbehörden all die Jahre hauptsächlich mit den Linken. Resigniert bemerkte Fritz Bauer nach dem Auschwitz-Prozess, die von ihm angestrebte Aufklärung habe nicht stattgefunden. Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die er bei den Angeklagten beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen, das einherging mit Versuchen, die Naziverbrechen zu relativieren.
1983 appellierte der CDU-Politiker Alfred Dregger an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. 1986 fragte der Historiker Ernst Nolte, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei. 1998 wandte sich der Schriftsteller Martin Walser unter dem Beifall der deutschen Crème de la Crème dagegen, Auschwitz als „Moralkeule“ zu benuten. Im Jahr darauf rechtfertigte der grüne Außenminister Joschka Fischer die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg”, sondern auch „Nie wieder Auschwitz” gelernt, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen.
2006 bezeichnete Joachim Gauck den Massenmord an den Juden als rational einzuordnendes Phänomen der modernen Zivilisation und stellte ihn in eine Reihe mit Stalins Gulag und dem Abwurf einer Atombombe auf Hiroshima durch die USA im Zweiten Weltkrieg. Sechs Jahre danach wurde dieser Mann zum Bundespräsidenten gewählt. Am 70. Jahrestag der Beifreiung von Auschwitz meinte er, es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz, aber am 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus sagte der Historiker Heinrich August Winkler von Beifall umrauscht im Bundestag, die Deutschen dürften sich „durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen“.
Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben, wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt und die Erinnerung wachruft an das, was der Initiator des Verfahrens, Fritz Bauer, wenige Wochen nach Beginn des Prozesses vor 900 Studenten in Frankfurt am Main gesagt hat: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden“.
Fotos:
Nr. 1676 Mit dem Kind auf dem Arm in die Gaskammer
Nr. 1679 Krematorium IV in Auschwitz-Birkenau
© Fotos entnommen dem Begleitbuch zum Auschwitz-Prozess von Irmtrud Wojak