Gabriel Heim
Basel (Weltexpresso) - Am 25. August 1944 entstand das erste Luftbild, das den Lagerkomplex von Auschwitz-Birkenau zeigte. Schon im April und dann wieder im Mai hatten Luftaufklärer der Royal Air Force die mächtigen Industrieanlagen von Monowitz (Auschwitz III) in einer Höhe von 8500 Meter überflogen. Doch was damals interessierte, war ausschließlich die gigantische Produktionsstätte der IG-Farben. Die in unmittelbarer Nähe dazu errichteten Barackenlager und die dahin führenden Eisenbahngeleise wurden trotz der rauchenden Schlote von der Aerial Reconnaissance weder interpretiert noch detailliert ausgewertet.
Wie Tausende anderer Luftaufnahmen verschwanden diese Bilder in der Registratur, denn offensichtlich stellten sie für die westlichen Alliierten im Sommer 1944 kein strategisches Ziel dar und auch für die Verbände der Roten Armee nicht, die sechs Monate später Auschwitz befreien sollten. Diese standen im Juli in den weiten Ebenen Weissrusslands. Auschwitz war weit weg.
Das Grauen war bekannt
Wie im vierten Kriegsjahr über das Massenmorden von Auschwitz in den Generalstäben wirklich gedacht worden ist, und weshalb dem mit militärischen Mitteln nicht Einhalt geboten wurde, dazu liegen bis heute keine vollgültigen Fakten vor. Zu diesem Schweigen passt auch, dass in der freien (nicht jüdischen) Presse des Jahres 1944 zu den Todeslagern des Massenmords der Deutschen nur Spärliches publiziert worden ist, obwohl seit der Befreiung von Majdanek am 23. Juli 1944 das Grauen einen Namen hatte und auch in der Nähe von Minsk in Maly Trostinec schon erste sowjetische Enquetekommissionen die Mordgruben exhumieren liessen und Zeugen befragten. Die Erkenntnisse des Sommers 1944 wurden nach sowjetischer Manier geheim gehalten. Schon auch deshalb konnten die Soldaten der 322. Infanteriedivision unter Generaloberst Kurotschkin, die in den Morgenstunden des 27. Januar 1945 die Häftlinge in Auschwitz befreiten, keine Vorstellung davon haben, was sie hinter den Toren und jenseits der Stacheldrähte erwartete. Anders als bei der Befreiung von Buchenwald durch die US-Army gelangte in den Tagen nach dem 27. Januar nur wenig durch die sowjetische Führung an die breite Öffentlichkeit.
Schweizer Presse schweigt
Die Befreiung von Auschwitz im Winter 1945 war kein Thema, das die von Frontberichterstattung und Kriegsverlauf überfüllte Presse aufgerüttelt hätte. Dies belegt auch eine Nachschau in mehreren meinungsführenden Schweizer Tageszeitungen im Zeitraum vom 26. Januar zum 15. Februar 1945. Der erste Hinweis auf Auschwitz findet sich in einer Agenturmeldung aus Berlin am 29. Januar in der Basler «National-Zeitung»: «Im Mittelabschnitt der Ostfront konnten die Russen die Linie Suchau–Andrichau–Auschwitz erreichen. Im Industriegebiet Oberschlesiens ist trotz verbissener Abwehr die Schlacht bis an die Fördertürme und Hochöfen herangekommen.»
Von Klagen und Sorgen
Am folgenden Tag berichtet das Blatt unter dem Titel «Flüchtlingsstrom aus Schlesien: Tausende von Frauen, Kindern und alten Leuten wurden in endlosen Kolonnen gesammelt und bei einer Kälte von minus 15 bis 20 Grad einem unbestimmten Schicksal ausgeliefert. Tausende sollen bei dieser klirrenden Kälte in den tiefverschneiten Strassen umgekommen sein.» Und an anderer Stelle: «Durch den Einbruch der Ostfront sind auch im schlesischen Kampfgebiet Schweizer Bürger bedroht worden. (...) Die Gesandtschaft in Berlin hat allen diesen Landsleuten einen in deutscher und russischer Sprache abgefassten Schutzbrief ausgehändigt.»
Offensichtlich fliessen dennoch Nachrichten vom Kriegsschauplatz im Osten in die Blätter, doch die Lager und ihre grausige Hinterlassenschaft finden keine Erwähnung. Auschwitz ist lediglich ein Ort auf der Landkarte des Frontverlaufs.
Kattowitz wurde für die Deutschen unhaltbar, zugleich rückte der linke Flügel Konjews nach und eroberte Oswiecim (Auschwitz), 30 Kilometer südöstlich von Kattowitz, melden die Basler Nachrichten am 30. Januar. Nicht Auschwitz, sondern einer anderen Befreiungsaktion widmet sich die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 28. Januar: «In einem deutschen Konzentrationslager bei Kreuzburg (Oberschlesien) fanden die russischen Truppen viele alliierte Kriegsgefangene, darunter auch Engländer, die offenbar strafweise dorthin versetzt worden waren. Die Gefangenen beklagten sich über schlechte Behandlung und Hunger.» Am folgenden Tag meldet sich der Berliner Korrespondent der NZZ mit einem Bericht über die Evakuierung deutscher Kinder aus dem Kriegsgebiet im Osten: «Man kann sich denken, welche Sorgen sich die Eltern machen.» Auch die Befreiung von Zehntausenden französischen Kriegsgefangenen ist eine Nachricht wert. Aus Auschwitz hingegen gelangen weder Meldungen noch Funkbilder in die Tagespresse der neutralen Schweiz, derweil Joseph Goebbels auch weiterhin das Hohelied des Endsieges singen darf: «Wir haben das Leid des Krieges bis zur Neige auszukosten und werden darum auch seine Sieger sein» (NZZ, 8. Februar 1945).
Groß, und in allen Tageszeitungen, wird ab dem am 8. Februar über die Ankunft von 1200 Jüdinnen und Juden aus dem Konzentrationslager Theresienstadt in Kreuzlingen berichtet. Die Schweiz erfülle hiermit ihre humanitäre Pflicht, lässt Bundespräsident Eduard von Steiger verlauten (die Freilassung beruhte auf Verhandlungen von alt Bundesrat Jean-Marie Musy mit Heinrich Himmler). Der Bundesrat wurde erst kurz vor Eintreffen des «Transports» informiert und konnte wohl nicht anders, als die Ankömmlinge freundlich zu begrüssen.
Jüdische Presse berichtet
Doch was hatte die jüdische Presse der Schweiz, das «Israelitische Wochenblatt» (IW), in diesen ersten Wochen des Jahres 1945 zu Auschwitz zu berichten? Wesentlich mehr! Am 26. Januar zitiert das damals einzige jüdische Wochenblatt in deutscher Sprache einen Bericht der polnischen Exilregierung in London: «Es gibt in Polen noch etwa 150 Konzentrationslager. Die Insassen sind nach sieben Monaten harter Arbeit zu Tode erschöpft. Die grosse russische Offensive hat hoffentlich vielen Gefangenen die Befreiung gebracht.»
Und am 2. Februar ist im IW zur Lage der Juden in Polen zu lesen: «In Oberschlesien wurden viele Gefangenenlager unversehrt aufgefunden. Da sich in dieser Gegend auch zahlreiche jüdische Arbeitslager befanden, darf hoffentlich angenommen werden, dass nun auch für die vielen jüdischen Internierten die Stunde der Freiheit geschlagen hat. Auschwitz wurde ebenfalls besetzt und damit haben nunmehr auch die Deportationen dahin aufgehört. Die russischen Truppen haben die Gaskammern vorgefunden, die so vielen Juden den Tod gebracht haben. Kurz vor der russischen Offensive wurde der Plan erwogen, durch jüdische Flieger die Transportwege nach Auschwitz und die dortigen Hinrichtungsstätten zu bombardieren: Dies ist jetzt unnötig geworden.»
Am 10. Februar verbreitet das IW erstmals Zahlen: «Im befreiten Polen sind nicht mehr als 15 000 Juden übriggeblieben. Nur eine ganz kleine Zahl bleibt von uns übrig. Alle unsere kulturellen und sozialen Organisationen sind dahin. In Polen starben allein 3 200 000 Juden, dazu kommen noch etwa drei Millionen aus anderen europäischen Ländern, welche in die polnischen Todeslager getrieben worden sind.»
Wie konnte es sein, dass trotz der Quellen, aus denen das IW schöpfte, in der bürgerlichen Tagespresse der Schweiz – zumindest bis Mitte Februar – kein Satz zur Befreiung von Auschwitz im nun von der Naziherrschaft befreiten Polen zu lesen war? Weshalb darüber nicht berichtet und geschrieben wurde, darüber lässt sich auch im Abstand von 75 Jahren nur spekulieren. In der Schweiz war damals «Stillhalten» ein Gebot der Stunde. Noch war Deutschland nicht besiegt. Warum also sollte übereilig von Auschwitz und damit verbunden, auch über Zahlen und Details der deutschen Lösung des «Judenproblems» berichtet werden? Die Presse hatte während der Kriegsjahre auch der Staatsdoktrin zu dienen, die kein Interesse daran gehabt haben konnte, die noch weitgehend intakten Beziehungen zum «Reich» durch Berichte aus sowjetischen oder gar aus jüdischen Quellen zu brüskieren.
Fakt ist: Die Befreiung von Auschwitz hat in der Schweizer Tagespresse nicht stattgefunden. Angesichts dessen wiegen die Worte des Theologen Karl Barth – der zweifellos über Auschwitz Kenntnis hatte – an einem Treffen der Bekennenden Kirche am 5. Februar 1945 schwer: «Wir waren sicher kein Fels, sondern eine neutrale, lustig sich bewegende Windfahne.»
Foto:
Am 27. Januar 1945 las der Zeitungsleser hierzulande kaum etwas über die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. Januar 2020
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. Januar 2020