Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Zehn Tage ist gerade her, dass der israelische Ministerpräsident Rivlin im Bundestag sagte: „Deutschland darf hier nicht versagen.“ Er dachte dabei an den Kampf gegen den Antisemitismus, aber seine Worte reichten weit darüber hinaus. Sie bezogen sich auf die Verantwortung Deutschlands vor der Geschichte.
Praktisch über Nacht sieht sich unser Land auf geradezu brutale Weise mit dieser Verantwortung konfrontiert, ohne dass jemand sagen könnte, dass alle gewählten Volksvertreter ihr auch gerecht werden. Wer hätte vor zehn Tagen für möglich gehalten, dass eine von Geschichtsrevisionisten geführte AfD demokratische Parteien zum Gaudium des rechten Publikums wie Tanzbären am Nasenring durch die Manege führt und die Parteichefin der regierenden CDU im Gefolge des peinlichen Spektakels unter dem Druck der eigenen Leute sich vom Vorsitz verabschiedet und darauf verzichtet, bei der nächsten Bundestagswahl für das Amt der Bundeskanzlerin zu kandidieren.
Dass Annegret Kramp-Karrenbauer mit der Nachfolge von Angela Merkel im Amt der Parteivorsitzenden überfordert war, wusste sie wahrscheinlich selbst am besten. Schon auf dem jüngsten Parteitag stand ihr das Wasser bis zum Hals. Nur weil sie den überraschten Delegierten abverlangte, sofort über ihren Verbleib im Amt zu entscheiden, konnte sie sich noch einmal retten und Friedrich Merz als Konkurrenten aus dem Feld schlagen. Der nahm es nach außen klaglos hin, ohne sein Ziel je aus den Augen zu verliehen, Angela Merkel als Bundeskanzlerin zu demontieren. Feixend sprach er vor laufender Kamera später davon, das Erscheinungsbild der von ihr geführten Regierung sei doch wirklich „grottenschlecht“.
Als jetzt im Thüringer Landtag die Wände wackelten und die Kanzlerin aus dem fernen Afrika erklärte, der unverzeihliche Vorgang, dass sich ein demokratischer Politiker von der AfD ins Amt des Ministerpräsidenten hieven ließ, müsse rückgängig gemacht werden, was Annegret Kramp-Karrenbauer nicht schaffte, war Friedrich Merz gleich wieder zur Stelle. In einem, wie die Süddeutsche Zeitung formulierte, scharfen, kurzen Tweet, der ohne Weiteres als Kampfansage gelesen werden könne, gab er bekannt: „Ich stehe dafür, dass der Weg der CDU korrigiert wird, auf dem wir schon zu viele Wählerinnen und Wähler an die AfD verloren haben.“
Das zielte nicht auf Kramp-Karrenbauers Führungsversagen im aktuellen Fall, sondern auf etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich die politische Orientierung der gesamten CDU. Für Friedrich Merz und seinen künftigen Fouché Hans-Georg Maaßen hat Angela Merkel die CDU sozialdemokratisiert, also nach links gerückt und damit nationalkonservative Wähler der AfD in die Arme getrieben. Dass Maaßen die rechtspopulistische AfD während seiner Zeit als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz heimlich beraten hat, wie sie taktieren muss, um in der Öffentlichkeit nicht als zu weit rechts stehend zu erscheinen, hatte nichts mit Menschenliebe oder dem Schutz der Verfassung zu tun. Ausschlaggebend dürfte vielmehr gewesen sein, gewisse Berührungspunkte zwischen dem rechten Flügel der CDU und der AfD nicht zu gefährden. Die der CDU zugerechnete Werteunion, der Maaßen als prominentes Mitglied angehört, schließt eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht aus.
Bundespräsident Steinmeier wusste, wovon er im Beisein des israelischen Staatspräsidenten sprach, als er sagte: „Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand.“ Ob Friedrich Merz der geeignete ist, die bösen Geister der Vergangenheit zu vertreiben, darf bezweifelt werden. Sein schlimmes Wort, er lasse sich nicht länger für Auschwitz in Haftung nehmen, unterscheidet sich in der Sache nicht von dem Ruf des thüringischen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke nach einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad. Der Rückzug Annegret Kramp-Karrenbauers vom Parteivorsitz und ihr Verzicht auf eine Kanzlerkandidatur verheißen nichts Gutes. Die AfD halbieren zu wollen, wie Friedrich Merz das verspricht, und gleichzeitig deren schmutziges Wasser auf die eigene Mühle zu leiten, kann schwerlich der richtige Weg in eine gedeihliche Zukunft sein.
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