Ein Zeitdokument zur Geschwindigkeit, wie das Coronavirus uns und unsere Welt verändert
Kurt Nelhiebel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vorbemerkung der Redaktion: Bei den nachfolgenden Zeilen handelt es sich um einen Brief unseres Mitarbeiters Kurt Nelhiebel an die Redaktionsleiterin Claudia Schulmerich vom 13. März, der im Trubel des Redaktionsbetriebs irgendwohin verschwand und jetzt wieder auftauchte. Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, aber in dieser Zeit hat das Coronavirus die Welt so verändert, so dass dieser Brief, der die Anfänge der Krise und die Reaktion des Absenders auf diese Anfänge beschreibt, bereits eine Art Zeitdokument geworden ist.
Liebe Claudia,
was mit dem Coronavirus über die Menschheit gekommen ist, hätte man früher als Strafe Gottes bezeichnet, als Strafe für die Selbstüberhebung des Menschen, der da meint, er könne sich nicht nur Seinesgleichen untertan machen, sondern auch den ganzen Planeten mitsamt der Natur und dem Klima. Du hast recht: Wir leben in gespenstischen Zeiten. Der Gedanke, einem solchen Winzling schutzlos ausgeliefert zu sein, verschlägt einem den Atem.
Nun aber sind ihm ganze Staaten ausgeliefert und keiner weiß so recht, wie er sich und seine Bürger schützen soll. Die angeordneten Schutzmaßnahmen zeugen von Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. Es ist ja einiges Vernünftige vorgeschlagen worden, aber es zeigt sich wieder einmal, dass unser Gesundheitssystem auf dem Zahnfleisch geht, vor allem in personeller Hinsicht, und das in ganz normalen Zeiten.
Dass ich Angst davor habe, ins Krankenhaus zu müssen, ist doch nicht normal. Sich im Krankheitsfall gut aufgehoben zu fühlen, gehört doch auch zur allgemeinen Sicherheit. Die Militärflugzeuge, die nachts am Himmel herumkreisen und eine Menge Sprit und Geld verpulvern, vermitteln mir nicht ein Fitzelchen Sicherheit, sondern stören allenfalls die Nachtruhe.
Man sollte die Hälfte des Geldes, das für militärische Zwecke ausgegeben wird, für unser Gesundheitswesen abzweigen. Dort liegt so manches im Argen, angefangen von den Gehältern für die Ärzte und die Krankenschwestern in den Krankenhäusern bis hin zur Bezahlung der Putzfrauen. Meine vor zwölf Jahren gestorbene Frau könnte vielleicht noch leben, wenn sie sich im Krankenhaus als Folge der miserablen hygienischen Verhältnisse nicht eine schwere Infektion zugezogen hätte.
Ich selbst verhalte mich derzeit wie immer, mache meine Einkäufe und gehe einmal in der Woche zum Essen in mein italienisches Restaurant. Den einen oder anderen Weg, beispielsweise um Briefmarken zu kaufen, hebe ich mir für später auf, immer in der Hoffnung, der kleine Übeltäter werde demnächst von den Frühlingstemperaturen vertrieben werden. Mit Essen und Trinken verfahre ich nach derselben Methode. Von jedem etwas und alles in Maßen. Allerdings trinke ich im Laufe des Tages mehr Wasser als sonst. Das solltest Du auch so halten. Die Lust zum Schreiben ist mir, zugegeben, allerdings etwas abhanden gekommen. Zu Lore Wolf hatte ich Dir das Cover ihres Buches geschickt und vorgeschlagen, zum 1. Mai etwas über ihr Leben zu bringen.
Den Film "Unterleuten" habe ich gesehen und fand ihn von Anfang bis Ende spannend und aufwühlend. Er handelt ja vom Scheitern eines Gesellschaftsmodells, das mit den äußeren Umständen und der Unvollkommenheit des Menschen nicht zu recht kam, oder besser gesagt nicht zurecht kommen konnte. Der Regisseur Matti Geschonnek hatte in seinem antifaschistischen Vater Erwin Geschonnek einen Lehrmeister, der ihm den Blick in die Abgründe der menschlichen Seele geöffnet hat. Sonst hätte er das Buch von Juli Zeh filmisch nicht so genial umsetzen können. Zum Weinen schön finde ich die Schluss-Sequenz. Wetten, dass dieser Film über kurz oder lang Kult ist? Da geht es schließlich um ein Stück unbewältigte deutsche Vergangenheit.
Die war übrigens am Donnerstag wieder zu Gast im Bundestag, als dort in erster Lesung ein Gesetz zur schärferen Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hass und Hetz im Netz beraten wurde. Ich befürchte, dass die Richter damit nicht viel erreichen werden. Dafür hat das Bundesverfassungsgericht das Tor für rechtsextreme Hetze zu weit aufgemacht. Selbst eine Partei wie die NPD, deren Wesensverwandtschaft nach Meinung des Gerichts offen zutage liegt, lässt es gewähren. Insofern braucht sich die AfD keine Sorgen zu machen, wenn jetzt ihr rechter Flügel vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Auch Demonstrationen gegen den Bau von Synagogen sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt.
Wir leben wirklich in gespenstischen Zeiten, mit und ohne Coronavirus.
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