Das Oberste Gericht des Landes forderte von Yuli Edelstein, bis Mittwoch einer Neuwahl zuzustimmen
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Das Oberste Gericht in Israel hat entschieden, dass Knessetsprecher Yuli Edelstein einer Neuwahl seiner Position im Parlament zustimmen muss, Edelstein hatte sich bislang gegen alle Versuche gewehrt, sein Amt neu besetzen zu lassen.
Wer geglaubt hatte, Israels Politiker und andere Macher hätten in den Tagen und Wochen der globalen Corona-Katastrophe alle Hände voll zu tun, die Epidemie zu besiegen und in erster Linie die Zahl der Toten und Erkrankten möglichst niedrig zu halten, der wurde diese Woche enttäuscht. Das, was Knessetsprecher Yuli Edelstein (Likud) da abgezogen hat, kann beim besten Willen höchstens nur als ein durchsichtiges Schauspiel der Verzögerungspolitik bezeichnet und entsprechend verurteilt werden. Sein Wunsch in allen Ehren, den Parteikollegen, allen voran Premier Netanyahu, die Stange halten zu wollen und ihn gegen alle mathematischen Wahrscheinlichkeiten und juristischen Vorzeichen durch das Meer der Opposition gegen seine Person und sein Benehmen durchboxen zu wollen. Doch nicht auf diese Weise.
Was Edelstein, unterstützt von Leuten wie Tourismusminister Yariv Levin und vor allem von Kulturministerin Miri Regev sich da geleistet hat, wird dereinst in den Annalen der israelischen Parlamentsgeschichte seinen Niederschlag finden als ein Mummenschanz der übelsten Art und Weise. Edelsteins präsumptiver Nachfolger, geleitet von einer neuen Regierung, täten gut daran, das Ganze hinter einem riesigen schwarzen Fleck zu verbergen in der (viellicht illusorischen) Hoffnung, dass die Komödie dereinst der Vergessenheit anheimfallen wird, spätestens dann, wenn die heutigen Protagonisten des parlamentarischen Trauerspiels höchstens noch in luxuriösen Altersheimen ihre unverdiente Pension verzehren.
Doch von vorne: Begonnen hat es damit, dass der Oberste Israelische Gerichtshof am Montag einstimmig befunden hat, Knessetsprecher Yuli Edelstein müsse das Parlament bis Mittwoch einberufen, um eine Abstimmung über die Wahl eines neuen Sprechers durchzuführen. Edelstein hatte sich geweigert, dies zu tun. Die Einmischung des Gerichts in parlamentarische Angelegenheiten hat Seltenheitswert in der israelischen Gegenwartsgeschichte. «Hier ist die Einmischung nötig», schrieben die Richter in ihrem Befund, «denn sonst wären das demokratische Lebensmuster und die Fundamente unseres parlamentarischen Systems kompromittiert.» Das in fünfköpfiger Zusammensetzung angetretene Gericht wies Edelstein an, der Knesset zu gestatten, bis Mittwoch die Wahl eines neuen Sprechers zu diskutieren, nachdem die Blauweiss-Partei von Benny Gantz und andere politische Gruppen eine Anzahl Petitionen in dieser Thematik eingereicht hatten. Diese folgten auf Edelsteins Weigerung, das Parlament einzuberufen, um sich mit dem Thema zu befassen. Laut Edelstein würde die Wahl eines neuen Sprechers die Bemühungen des Likuds und von Blauweiss behindern, eine Einheitsregierung zu bilden. Als ob Edelstein an der Formierung einer solchen Regierung effektiv interessiert gewesen wäre.
Missbrauch der Situation
Um ein Urteil in der Sache zu vermeiden, hatte das Oberste Gericht von Edelstein verlangt, ihm seinen Entscheid bis 21 Uhr Ortszeit am Montagabend zu unterbreiten. Edelstein weigerte sich und schrieb den Richtern: «Bei allem Respekt: Solange das Gericht mir und der israelischen Knesset das Ultimatum präsentiert, die Sitzung ‹nicht später als am 25.3.20› abzuhalten, kann ich dem nicht zustimmen.» Das würde heissen, fuhr Edelstein fort, dass die Knesset-Tagesordnung vom Obersten Gerichtshof formuliert würde und nicht von dem damit beauftragten Knessetsprecher. Die Einmischung des Gerichts in diese Angelegenheit sei von «klar politischer Natur», und sollte das Gericht an seiner Intervention festhalten, könnte das so aufgefasst werden, als würde es «seine Zehen in den politischen Sumpf eintauchen». Das wiederum würde das Vertrauen der Öffentlichkeit ernsthaft beeinträchtigen.
Edelstein sagte ferner, er werde die Angelegenheit der Wahl eines neuen Sprechers «so bald als möglich» auf die Tagesordnung der Knesset setzen, wenn alle Umstände dies rechtfertigen würden, jedenfalls in den nächsten paar Tagen und «nicht später als bis zum Zeitpunkt der Einberufung der Knesset zum Zweck der Regierungsbildung». Einen Termin nannte der Sprecher aber nicht. Laut Edelstein würde die Intervention des Obersten Gerichts in die Angelegenheit die «politische Ausnutzung eines schwierigen Moments» in der Wahl eines Knessetsprechers gestatten, der vielleicht zum «Sprecher des Konflikts» werden würde, was jedoch der Arbeit von Knesset und Regierung schaden würde.
In der Urteilsbegründung hatte Gerichtspräsidentin Esther Hayut unter anderem geschrieben: «Die fortgesetzte Weigerung, eine volle Abstimmung in der Knesset zur Wahl eines permanenten Knessetsprechers durchzuführen, untergräbt die Fundamente des demokratischen Prozesses. Sie schädigt aufs Gröbste sowohl die Position der Knesset als unabhängige Körperschaft als auch den friedvollen Machttransfer.» Richterin Hayut machte auch geltend, dass die Sache Edelstein persönlich betreffe, weshalb seine Beurteilungsfähigkeit nicht «breit» sei, sondern äusserst «eng und limitiert».
Präferenzen und Ranküne
In der Knessetdebatte meldeten sich diverse Vertreter des Likud zu Wort, wobei vor allem Kulturministerin Miri Regev durch eine besonders grobe, ja fast unflätige Ausdrucksweise auffiel. Tourismusminister Yariv Levin gab sich besorgt darüber, dass das Oberste Gericht Israels das Volk «in die Anarchie» führen würde. Von dieser Seite schoss Transportminister Bezalel Smotrich gewiss den Vogel ab, als er Edelstein empfahl, sich um die Äusserungen des Obersten Gerichts zu foutieren. Aus der Umgebung von Blauweiss-Chef Benny Gantz verlautete hingegen, das Land sei einem vierten Wahlgang innert eines Jahres näher denn je gekommen. Gemäss dem jetzigen Stand der Dinge dürfte diese Beurteilung dem derzeitigen Sachverhalt am nächsten gekommen sein. Wie sehr die ganze klägliche Debatte von persönlichen Präferenzen und Ranküne geprägt war, deutete Yuli Edelstein selber an. Er zürne den Oberrichtern, soll er sich geäussert haben, weil diese ihren Beschluss schon so rasch nach der Veröffentlichung seines eigenen Votums publiziert hatten. Vielleicht, aber nur vielleicht, liegt der Hase diesbezüglich im Pfeffer begraben, dass die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs Wesen und Charakter des Knessetsprechers im Laufe der Zeit bereits so gut kennen lernen konnten, dass sie ihre Stellungnahmen nur noch mit ihrer Unterschrift versehen mussten. Israelische Richter sind ja keine marktfahrenden Märchenerzähler, wenigstens bis jetzt noch nicht. Die Planer im Knessetgebäude sollten sich vielleicht schon mal nach geeigneten Daten für die nächsten Wahlen umsehen, gleichzeitig aber die Vereidigungszeremonie für die Regierung der nationalen Einheit vorbereiten.
In der israelischen Alltagspolitik ist bekanntlich nichts so beständig wie der Wandel, Covid-19 hin oder her. Von dieser Perspektive aus betrachtet, kann das, was vor nur einer Stunde noch als das Mass aller Dinge betrachtet worden ist, jetzt bereits belächelt und zum Altstoff geworfen werden. Das muss bei allen Betrachtungen zur «Affäre Edelstein et al.» berücksichtigt werden. Der Match ist also erst mit dem endgültigen Schlusspfiff beendet.
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 27. März 2020